Die bemerkenswerteste Leistung der Schweiz, die sie, auch wenn das nicht alle gerne hören, mehr als alles andere zum Sonderfall macht, ist das nun schon Jahrhunderte gelingende, ungewöhnlich friedliche Zusammenleben von mehreren Kulturen, Sprachen und Religionen, von – sehr vielen – Ausländern und Inländern, von unterschiedlichsten sozialen Schichten.

Diese Leistung basiert auf drei Säulen. Erstens herrscht in der Schweiz keine Kongruenz der Minoritäten. Der Normalfall in fast allen anderen Ländern ist, dass die Angehörigen der sprachlichen Minderheit gleich auch noch religiös und wirtschaftlich zur Minderheit zählen. Das trifft für die Schweiz nicht zu. Zweitens erlaubt es die ausgeprägte Dezentralisierung, zu der noch mehr als der Föderalismus die Gemeindeautonomie zählt, auf die verschiedensten Bedürf nisse einzugehen. Es wird nicht alles unter eine landesweite Lösung gezwängt. Drittens schliesslich hat die Schweiz, durchaus aus vielen Konflikten heraus, ein politisches System, vor allem aber auch eine entsprechende Kultur entwickelt, die auf vier «K» ausgerichtet ist: Konsens, Kompromiss, Konkordanz und Kohäsion.

Man kutschiert miteinander über alle Differenzen hinweg, weil man aufeinander angewiesen ist und weil man so besser fährt, als wenn man sich als Landesteil stärker den jeweils kulturell näheren Nachbarn im Norden, Westen und Süden annähern würde. Das ist mit der Willensnation Schweiz gemeint.

Konsens und Streit

Diese zum Konsens fast gezwungene Nation Schweiz ist nicht unbedingt der Boden, auf dem sich eine offene Streitkultur entwickeln kann. Zumal Zuwanderer aus Deutschland zeigen sich immer wieder überrascht, wie sehr hierzulande die explizite Konfrontation vermieden, wie selbstverständlich Dissens in die Watte einer «unschuldigen» Frage oder einer diplomatischen Formulierung gepackt und wie oft in Gremien irgendwelcher Art im Meinungsbildungsprozess Einstimmigkeit angestrebt wird. Diese Konsenskultur ist deshalb auch nicht ein besonders fruchtbarer Boden für neue Ideen, für Tabubrüche und Provokationen, für intellektuelle Versuchsballone und überraschende Vorschläge. Denn meist machen solch neue Ideen eine Einigung schwieriger oder sie gefährden einen bereits gefundenen, fein austarierten Kompromiss.

Die Kultur des Konsenses führt oft auch dazu, dass bereits die Ideenlieferanten, die Wissenschafter, die Intellektuellen, wenn es um Themen von allgemeiner Relevanz geht, mit einer Schere im Kopf denken und sich sowie der Öffentlichkeit bloss das politisch Machbare zumuten. Das führt nicht nur zu einer Politik der kleinen Schritte (die durchaus ihre Meriten hat), sondern auch zu einem Denken in kleinen, sehr kleinen Schritten, was der intellektuellen Offenheit und der Suche nach wirklichen Innovationen nicht sehr förderlich ist. «Think big» im weitesten Sinne ist nötig, um am Ende zu kleinen Fortschritten zu gelangen.

Ein anderer Ausdruck der Kultur des Konsenses ist, dass alle, die zu sehr aus der Masse herausragen, mit grösstem Misstrauen beäugt werden. Als ich einmal in Paris in einer Tischrunde mit lauter Franzosen einen unserer damaligen Bundesräte – es war Kurt Furgler – als intellektuell brillant charakterisierte, um dann anzufügen, das sei wohl sein grösstes Handicap, herrschte basses Erstaunen. In Frankreich war und ist solche Brillanz in der Politik ein Trumpf, in der Schweiz ist sie ein Nachteil. Ähnlich geht es jenen, die mit Ideen, die an der Wurzel der Probleme ansetzen, also im ursprünglichen Wortsinn radikal sind, oder mit besonders originellen Vorschlägen von sich reden machen.

Es ist auch auffällig, wie rasch man hierzulande dazu neigt, etwas als extrem abzutun und entsprechend zu schubladisieren. Früher wurde vor allem mit der Kommunismuskeule zugeschlagen («Moskau einfach»), heute fast noch rascher als in Deutschland mit der Nazi-Keule. Das hat mit einem differenzierten Urteil rein gar nichts zu tun und ist manchmal geradezu peinlich unverhältnismässig, aber es scheint sich doch einer gewissen Popularität zu erfreuen. Der konkrete Inhalt, die Substanz von Ideen wird oft viel weniger diskutiert als die Verpackung, der Stil der Vermittlung oder die – oft fälschlicherweise unterstellte – weltanschauliche Verortung. Und wenn dann doch der Inhalt avisiert wird, dann liebend gern mit dem Vorwurf, etwas sei nicht zu Ende gedacht. Als ob Denkanstösse immer pfannenfertige Lösungen sein müssten und als ob sie nicht in der politischen Diskussion weiter gedacht werden könnten – und als ob überhaupt jemals etwas auf dieser Welt zu Ende gedacht wäre, zumal in der Politik.Das Konsensland Schweiz tut sich schwer mit Querdenkern, mit allem, was zu stark vom Gewohnten und vom Weitverbreiteten abweicht.

Aber gleichzeitig braucht die Schweiz Ideen, denn im politischen und gesellschaftlichen Zusammenleben sind Innovationen ebenso wichtig wie in der Wirtschaft und der Wissenschaft. Und sie sind es erst recht in einem rohstoffarmen Land wie der Schweiz, das sich im Konzert der Nationen überhaupt nur behaupten kann dank besonderer Tüchtigkeit und mutiger Erneuerung. Das ist kein Plädoyer für Reformen um der Reform willen und es ist auch keine Aufforderung zur Anpassung an den internationalen Mainstream, der sich meist sehr modern gibt und für ausserordentlich fortschrittlich hält, denn in solcher Anpassung an das, was üblich ist, liegt gerade keine besondere Innovation und keine Originalität. Aber klar ist: Die Schweiz darf und kann sich nirgends auf ihren Lorbeeren ausruhen, sie muss auch ihre vielen bewährten Institutionen permanent auf ihre Tauglichkeit prüfen, sie notfalls den Veränderungen der Umwelt anpassen, sie noch stärker machen. Und sie muss zugleich Schwachstellen frühzeitig erkennen und auszumerzen versuchen.

Dazu kommt: auch auf dem Markt der Ideen ist Wettbewerb von Vorteil. Er steigert die Qualität, er treibt die Innovation an, er führt zu Bedürfnisgerechtigkeit. Die Absenz von genügend Ideen und damit eines Wettbewerbs der Ideen mündet in ein Handeln ohne Alternative – und das heisst nichts anderes als Zwang. Deshalb hat Avenir Suisse eine Sammlung von 44 «Ideen für die Schweiz» vorgestellt und einen Wettbewerb unter Studenten ausgerichtet, dessen Ergebnisse in diesem Sonderheft des «Schweizer Monats» vorgestellt werden. In beiden Publikationen mischt sich eher «Braves» mit Unkonventionellem – gedacht als Impulsgeber für möglichst viele öffentliche Debatten. Dabei muss man sich immer bewusst sein, dass gerade in einem so konsensorientierten Land wie der Schweiz die Ideen bei ihrer Lancierung gelegentlich durchaus ziemlich frisch und radikal sein dürfen, ja müssen. Der politische Prozess zerzaust sie nämlich ohnehin und dampft noch so grosse Würfe auf ein ziemlich menschliches Mass ein.

Idee und Ausdauer

Der Think-Tank Avenir Suisse versteht sich nicht zuletzt als eine Institution in einem auf Konsens gebauten Land, die selbst kaum auf Konsens angewiesen ist. Sie kann auch unpopulären und unkonventionellen Ideen nachgehen und ist keinen Denkverboten unterworfen. Die Crux einer solchen Arbeit ist allerdings, dass naturgemäss so manche Ideen vielleicht erst in 20 oder 30 Jahren umgesetzt werden dürften. Soll sich etwa das Mobility Pricing in einigen Jahrzehnten durchsetzen, muss die Vorarbeit schon heute beginnen, muss schon heute für das Thema sensibilisiert und mit Daten und Fakten aufgeklärt werden. Von daher ist die Aufgabe des Ideenlieferanten in die Zukunft gerichtet und somit etwas undankbar. Er sieht nämlich die Früchte seiner Arbeit unter Umständen nie, kann sie jedenfalls oft nicht mehr ernten. Nur wenn ganz junge Leute solche Ideen lancieren, wird es ihnen vergönnt sein, dann eines Tages auch das Ergebnis zu erleben. Junge Ideen von jungen Leuten – das sollte eine der Strategien der Schweiz sein.

Es ist gewissermassen ein helvetisches Paradoxon, dass ausgerechnet in diesem Land des Konsenses und der Konfliktscheu ein politisches System geschaffen wurde, das Vorstösse und Impulse durch die Bürger ermöglicht wie kein anderes Land auf dieser Erde. Nirgendwo sonst wird das Instrument der Volksinitiative so häufig und so machtvoll eingesetzt wie in der Schweiz. Sollte man sich also über die Erneuerungskraft der Schweiz keine Sorgen machen? Bei genauerem Hinsehen zeigt sich rasch, dass es mit der Innovationskraft dieses Instruments doch nicht so weit her ist. Zum einen wurden seit der Einführung des Initiativrechts im Jahre 1891 nur knapp 10 Prozent aller zur Abstimmung gebrachten Initiativen angenommen, zum anderen machten die Gegenvorschläge des Bundesrates häufig aus zum Teil ziemlich weitreichenden Vorstössen relativ zahme und für eine breite Öffentlichkeit verdauliche Gesetzesentwürfe.

Zu wünschen ist der Schweiz mehr Offenheit gegenüber dem Neuen, vor allem eine offenere, unvoreingenommenere, sachlichere Diskussion von Unkonventionellem und Überraschendem. Nicht die Herkunft von Ideen sollte relevant sein, sondern ihr Inhalt. Wobei Offenheit nicht etwa kritiklose Bejahung heisst, sondern konstruktives Weiter denken und Weiterentwickeln. Vielleicht ist der Ansatz einer Idee falsch, aber ihr Grundgedanke richtig. Anstatt dann die Idee in Bausch und Bogen zu verdammen, sollte man sich fragen, was von ihr übernommen werden und wie sie so umgemodelt werden kann, dass am Schluss eine brauchbare, eine umsetzbare und eine für eine Mehrheit akzeptable Idee daraus wird. Denn solche Ideen braucht das Land, ganz viele, mehr als in der Vergangenheit, und sie können nur in einer offenen Debattenkultur gedeihen.

Dieser Text erschien in der Sonderbeilage «Reformideen – Rohstoff für die Schweiz» des Schweizer Monats (Sonderthema 9/Februar 2013).

Weitere Artikel in dieser Publikation:

Die Schweiz exportieren! (Harold James)

Neue Becken für die Schweiz (Niklaus Bieri, Universität Bern)

Flexibles Rentenalter und Altersarbeit (Marion Haemmerli, Université de Lausanne)

Bodenabgaben gegen die Zersiedelung (Piet Justus Wolf, Universität Zürich)

Eine Lizenz zum Rauchen (Martin Eschenmoser, Universität St. Gallen)

Schulische Wettbewerbe für bessere Motivation (Xinyi Zhou, Universität Basel)

Autofreie Sonntage  (Yannick Charpié, ETH Zürich)