Herr Müller-Jentsch, ist der visionäre Geist von Avenir Suisse verflogen?

Unsere ­Aufgabe ist es, Reformprozesse durch fundierte Analysen und Vorschläge anzustossen. Dazu zählen auch ­gelegentlich Visionen. Diese liefern wir nach wie vor – wie etwa jüngst den Vorschlag, das System der ­Schuldenbremse auch auf die Sozialwerke zu übertragen. Was letztes Jahr noch eine Vision war, wird heute ernsthaft diskutiert.

Vor fünf Jahren schlug Ihr Thinktank vor, die Kantone durch sechs Metropolitanregionen abzulösen. Diesen Ansatz propagiert ihr nicht mehr aktiv.

Das war kein konkreter Vorschlag, sondern eine Zustandsbeschreibung. In zwei Büchern, «Baustelle Föderalismus» und «Stadtland Schweiz», ­haben wir damals gezeigt, dass es eine wachsende Kluft gibt zwischen dem kleinteiligen Föderalismus und funktionalen Räumen. In den vier bis fünf Metropolitanregionen der Schweiz leben auf zehn Prozent der Landesfläche fast 50 Prozent der ­Bevölkerung, und es werden knapp 60 Prozent des Wohlstands erwirtschaftet. Im föderalen Gefüge exis­tieren diese Metropolitanregionen politisch gesehen jedoch gar nicht. Die politische Karte der Schweiz stammt noch aus dem 19. Jahrhundert. Wir propagieren keine radikale Neuordnung des Föderalismus, aber seine gelegentliche Anpassung an neue Realitäten. Dazu gehören auch Gebietsreformen.

Bereichsweise bewegt sich ja auch ­einiges: TCS beider Basel, Krebsliga beider Basel oder der Musikverband beider Basel. Warum haben Non-Profit-Organisationen keine Berührungsängste, wenn es um Fusionen geht?

Die Existenz zahlreicher bikantonaler Institutionen ist eine Basler Besonderheit – etwas Vergleichbares findet man zwischen Zug und Zürich oder zwischen St. Gallen und dem Thurgau nicht. Es zeigt, wie eng die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den beiden Basel sind. Auf der Alltagsebene hat die Fusion bereits stattgefunden.

Eigentlich sind die Baselbieter ja nicht sonderlich fusionierfreudig. Schweizweit häufen sich seit zehn ­Jahren Gemeindezusammenschlüsse. Hier aber scheint nichts zu passieren.

Landesweit gibt es jährlich rund 50 Gemeindefusionen. In den letzten zehn Jahren gab es so viele Zusammenschlüsse wie in den 150 Jahren davor. Im Kanton Baselland jedoch gab es bisher nur eine einzige Gemeinde­fusion – und das war vor 40 Jahren.

Anders als bei den Gemeinden sind ­Fusionen auf Kantonsebene aber auch schweizweit offensichtlich ein Tabuthema.

Den Eindruck bekommt man in der Tat: An diese Thematik wagen sich meist nur bereits pensionierte ­Regierungsräte heran, nicht jedoch amtierende. Es ist schon verblüffend, dass es seit der Gründung des Bundesstaates 1848 keine einzige Kantonsfusion gegeben hat. Ein Grossunternehmen, das sein Or­ganigramm 160 Jahre nicht an ein verändertes Umfeld anpasst, wäre undenkbar.

Ob- und Nidwalden? Kein Thema. Appenzell Inner- und Ausserrhoden? Ebenfalls nicht. Warum kommt das Thema einer Kantonsfusion ausgerechnet in der Region Basel auf?

Das Besondere an Basel ist, dass die Kantonsgrenze die Kernstadt von ­ihren Umlandgemeinden trennt – sie läuft quasi mitten durch ein urbanes Siedlungsgebiet hindurch. Kaum irgendwo anders gibt es eine solch starke Kluft zwischen dem funktionalen Raum, in dem sich der soziale und wirtschaftliche Alltag abspielt, und den historisch gewachsenen politischen Grenzen.

Aber warum soll sich die Politik überhaupt immer den wirtschaftlichen Gegeben­heiten anpassen und nach Grösse streben? Die Probleme, die ein Gebilde wie die EU hat, sprechen doch eher dagegen.

Im europäischen Vergleich ist der kleinteilige Föderalismus Schweizer Prägung ein Erfolgsmodell, das es zu erhalten gilt. Aber auch ein Erfolgsmodell muss man hie und da mal an neue Gegebenheiten anpassen. Ein fusioniertes Basel hätte so viele ­Einwohner wie der Kanton Genf oder der Kanton St. Gallen – es geht hier keineswegs um einen radikalen Strukturbruch.

Dennoch gibt es viele, die befürchten, sie hätten in einem grösseren politischen Gebilde weniger zu sagen.

Dieser Logik zufolge müssten die Genfer oder St. Galler eigentlich für die Aufspaltung ihrer Kantone ­kämpfen – beispielsweise in zwei Halb­kantone Genf-Stadt und Genf-Landschaft. Aber solche Bestrebungen sind derzeit nicht erkennbar.

Hier allerdings befürchten viele Baselbieter, in einem fusionierten Kanton von Basel fremdbestimmt zu werden. Und das, obwohl auf dem Land rund 100 000 Menschen mehr leben als in der Stadt.

Offenbar existiert diese Angst vor allem in den stadtfernen Gemeinden des Baselbietes. In den Umlandgemeinden scheint man sich eher mit der Stadt verbunden zu fühlen – wie man bei der Abstimmung über die Theater­zuschüsse sehen konnte. Ich denke ­daher, dass die Fusionsbefürworter auch die ländliche Bevölkerung für ihr Projekt gewinnen müssen.

Aber können kleine Kantone die Be­dürfnisse ihrer Bürger durch die Nähe nicht ohnehin besser befriedigen?

Kleinteilige und gewachsene Strukturen haben durchaus ihre Vorteile und man sollte sie nicht ohne gute Gründe über den Haufen werfen. Aber man muss Vor- und Nachteile einer Fusion gegeneinander abwägen.

Können grössere Kantone denn tatsächlich effizienter sein?

Grössenvorteile ergeben sich durch die Einsparung doppelter Strukturen, kritische Masse für eine professionelle Verwaltung oder Einsparungen bei gemeinsamen Investitionsprojekten. Ein Vorteil ist auch die Bündelung der Kräfte im Standortwettbewerb mit anderen Metropolitanregionen. Heute führt die Kleinräumigkeit dazu, dass man den Konkurrenten eher im Nachbarkanton sieht statt in anderen Wirtschaftszentren wie Zürich, München oder Mailand. Um in dieser Liga mitzuspielen, ist man bisher zu klein.

Fusionen in der Wirtschaft allerdings zeigen: Es wird jeweils der höhere Standard übernommen. Das wäre zwischen den beiden Basel kaum anders. Liessen sich so überhaupt nennenswerte Kosten sparen?

Wie hoch die Kosteneinsparungen sind, ist schwer zu sagen. Um dies genauer abzuschätzen, wäre die geplante Simulation sehr hilfreich. Fusionen sind aber immer auch eine Gelegenheit, die Strukturen zu modernisieren. In Glarus etwa hat die Fusion zu drei Grossgemeinden einen Reformschub in vielen Bereichen gebracht. Beispielsweise war Glarus der erste Kanton in der Schweiz, der flächendeckend die neue Rechnungslegung HRM-2 eingeführt hat.

Der Kopf würde also vielerorts für Gebietsreformen sprechen. Und dennoch scheint alles in Stein gemeisselt zu sein.

Eine gewisse Skepsis hat durchaus ihr Gutes. Auch bei Gemeindefusionen wird nur etwa jedes zweite Fusionsprojekt am Ende umgesetzt. Bei ­jedem spezifischen Fusionsprojekt müssen Vor- und Nachteile genau ­geprüft und ausführlich diskutiert werden. Nur so kann eine Akzeptanz für einen Zusammenschluss wachsen.

Vielleicht geht es den Kantonen so gut. Vielleicht besteht damit kein Veränderungsdruck.

Bei Gemeindefusionen ist auch der Leidensdruck ein Grund für Zusammenschlüsse – Finanzschwäche, fehlendes Milizpersonal, Bevölkerungsrückgang. Das ist bei den Kantonen anders: Sie sind grundsätzlich gut in der Lage, ihre Aufgaben zu erfüllen, und finanziell standen die meisten von ihnen in den letzten Jahren gut da. Aber gerade in Baselland scheint sich dies ja zu ändern.

Dennoch bleibt Skepsis. Viele haben Angst, dass die beiden Kantone während der Fusionsdebatte in ihrer ­Handlungsfreiheit eingeschränkt wären. Könnte der Schuss also auch nach ­hinten losgehen?

Natürlich absorbiert eine Fusion zunächst auch Kräfte. Aber was kurzfristig Ressourcen bindet, kann längerfristig Synergien freisetzen. Auch bei gut umgesetzten Firmenfusionen entsteht anschliessend ein stärkeres Unternehmen.

Denken wir noch etwas weiter: Könnte eine Wiedervereinigung der beiden Basel schweizweit eine Dynamik in die Debatte um Gebietsreformen bringen?

Ich rechne nicht mit einer Welle von Kantonsfusionen, aber den einen oder anderen Zusammenschluss könnte es in den nächsten 20 Jahren schon geben. Warum sollten Gebietsreformen nur auf Gemeindeebene stattfinden? Alleine schon eine fundierte Debatte um ein konkretes Fusionsprojekt zwischen den beiden Basel könnte auch in anderen Regionen der Schweiz fruchtbare Diskussionen auslösen, zum Beispiel, wie man innerhalb funktionaler Räume besser zusammenarbeiten kann.

Reicht ein Zusammenschluss einzelner Kantone überhaupt? Oder denken Sie schon an einen Kanton Nordwestschweiz?

Ich denke, man sollte den Bogen nicht überspannen. Eine Fusion der beiden Basel scheint mir naheliegender – zumal es sich dabei historisch gesehen auch um eine Wiedervereinigung handeln würde. Ausserdem müsste man sich bei der Namensgebung für den neuen Kanton nicht lange herumstreiten.

Dieses Interview erschien in der «Basler Zeitung» vom 08.Oktober 2012.