Gerhard Schwarz, Chef der Denkfabrik Avenir Suisse, über seine Erfahrungen als Demonstrant, seine Erziehungsgrundsätze, die Zuwanderung und die moralischen Pflichten der Superreichen
Giessereistrasse 5 beim Escher-Wyss-Platz in Zürich. Einst ein klassisches Industriegebiet, das sich in eine Kulturmeile und ein IT-Mekka verwandelt hat. Neben dem Theater Schiffbau befinden sich auch die Büros von Avenir Suisse, der Denkfabrik der Schweizer Wirtschaft. In die Räumlichkeiten im 3. Stock eines alten Fabrikgebäudes gelangt man entweder mit einem klapprigen Warenlift oder man steigt eine steile Betontreppe hoch. Loft-Chic dominiert. Gerhard Schwarz empfängt in einem hellen Büro. Anstatt auf den Zürichsee oder den Sechseläutenplatz, wie einst als Wirtschaftschef bei der NZZ, hat er nun Aussicht auf einen anonymen Hinterhof. Trotzdem scheint er sich als Direktor von Avenir Suisse gut eingelebt zu haben.
Aufgeräumt bittet er, Platz zu nehmen. Er selbst setzt sich unter ein Poster im Stil eines grossen Comics – Avenir Suisse hat das Poster Thomas Held, dem Vorgänger von Schwarz, zum Abschied gewidmet: Es zeigt Held im Tim-und-Struppi-Look vor einer mit Punkten übersäten Schweizerkarte. Jeder Punkt steht für einen Ort, an dem Held sein Handy mindestens einmal verloren hat.
Gerhard Schwarz, wann haben Sie das letzte Mal an einer 1.-Mai-Demonstration teilgenommen?
An einer Demonstration habe ich nie teilgenommen. Ich habe mir einzig vor ungefähr 40 Jahren einmal eine 1.-Mai-Feier in St. Gallen angeschaut.
Haben Sie überhaupt je an einer Demonstration teilgenommen?
Ja, in Vorarlberg, wo ich herkomme. Als ich noch zur Schule ging, wollte der damalige österreichische Verkehrsminister, dass ein neues Bodenseeschiff auf den Namen eines ehemaligen sozialistischen Staatspräsidenten getauft wird. Das bürgerlich dominierte Vorarlberg war dagegen. Bei der Taufe des Schiffes kam es zu einer Volksdemonstration in Fussach, an der auch ich dabei war. Das Schiff heisst übrigens bis heute Vorarlberg.
Haben Sie als Jugendlicher nie mit linken Ideen sympathisiert?
Nicht wirklich, obwohl ich von meinem Jahrgang her prädestiniert gewesen wäre, ein 68er zu sein. Aber ich war staats- und machbarkeitsgläubiger als heute. Diese Zeit der 68er-Generation war ja eine Zeit der unglaublichen Politisierung. Wir haben nächtelang diskutiert und uns über wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen den Kopf zerbrochen. Das hat mich geprägt.
Stammen Sie aus privilegierten Verhältnissen?
Mein Vater hatte einen kleinen Handelsbetrieb, wir gehörten nicht zu den Reichen, sondern zum Mittelstand. Aber ich empfand mich immer als privilegiert. Es hat mir nie an etwas gefehlt.
In der Schweiz sinken derzeit die Löhne, während die Mieten steigen. Haben die Arbeitnehmer nicht allen Grund, auf der Strasse zu demonstrieren?
In der längeren Frist sind die Löhne auch der unteren Einkommensschichten gestiegen. Und die Arbeitslosenzahlen sind so tief wie nirgends. Generell haben Schweizer Arbeitnehmer kaum einen Grund, auf die Strasse zu gehen. Wir leben in einem sehr privilegierten Land, und dieses Privileg kommt allen zugute.
Sie beschreiben in ihrem neuen Buch «Wirtschaftswunder Schweiz» das Erfolgsmodell Schweiz. Sind die Früchte dieses Erfolges nicht sehr ungleich verteilt?
Entscheidend ist, dass alle davon profitieren. Das ist gewiss der Fall. Aber zurzeit scheint sich der Mittelstand zum Teil als Verlierer zu fühlen. Deshalb wollen wir uns bei Avenir Suisse mit dem Mittelstand beschäftigen.
Was genau untersuchen Sie?
Wir wollen wissen, inwiefern der Mittelstand durch die Globalisierung – also durch den internationalen Wettbewerb und die Zuwanderung – und durch die Politik – etwa bei den Steuern, im Sozialen – objektiv unter Druck kommt und inwiefern der Druck sich gewissermassen auf einer gefühlten Ebene abspielt.
Gefühlte Ebene, was meinen Sie damit?
Ohne unserer Forschung vorgreifen zu wollen, einfach ein Beispiel: Vor 30 Jahren wollten alle ein Einfamilienhaus im Grünen. Jetzt wollen alle zurück in die Stadt und klagen nun über die extrem hohen Mieten und Preise für Eigentumswohnungen. Zum Teil ist dies selbst gewollt und selbst gewählt.
Aber die hohen Mieten sind nicht gefühlt, die müssen bezahlt werden.
Höhere Mieten zahlen vor allem jene, die neu zuwandern und die umziehen. Die Altmieten sind tendenziell zu stark festgezurrt. Und Tatsache ist: Wir sind ein attraktives Land und haben insgesamt eine hohe Lebensqualität, und zwar für die meisten Einwohner. Deshalb wollen so viele Menschen zu uns kommen. Das führt jetzt zu Spannungen, hauptsächlich in den Regionen Zürich und Genf.
Gemäss den Gleichgewichtsgesetzen der klassischen Ökonomie hört die Zuwanderung erst auf, wenn das Lohnniveau der Schweiz gleich hoch ist wie das der umliegenden Länder. Für Schweizer Arbeitnehmer bedeutet dies sinkende Löhne.
Der Schweizer Arbeitsmarkt kann und darf sich nicht einigeln, um den Besitzstand zu wahren. Wir brauchen die globalisierten Spitzenbranchen wie Pharma, Medizinaltechnik, Uhren oder den Finanzsektor. Und wir brauchen langfristig die Dynamik, die uns die Zuwanderung bringt. Nur so können wir unseren Wohlstand sichern.
Mit anderen Worten: Es wird nicht zu verhindern sein, dass die Schweizer Löhne sinken?
Das wird hauptsächlich davon abhängen, ob die Zuwanderung Produktivitätsgewinne und Innovationen, also ein Wachstum in die Tiefe bringt, oder eher ein Wachstum in die Breite. Man darf nicht vergessen, dass der meiste Beschäftigungszuwachs der letzten 20 Jahre im öffentlichen Sektor stattfand, der nicht dem globalen Wettbewerbsdruck ausgesetzt ist. Den grössten Zuwachs verzeichnete der Gesundheitssektor. So arbeiten beispielsweise rund 3000 deutsche Ärzte in der Schweiz.
Gerade im Bereich der Höchstqualifizierten ist jedoch der Lohndruck am stärksten. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Zürcher Kantonalbank.
In bestimmten Berufen und in bestimmten Regionen gibt es Dichte- und Verdrängungsprobleme, aber das gilt nicht für die gesamte Schweiz. Und diese Probleme sind nicht nur ökonomischer Natur im engeren Sinne.
Woran denken Sie?
An allgemein menschliche Probleme, wenn Arbeitskolleginnen und -kollegen aus dem Ausland tüchtiger sind, wenn man einen deutschen Vorgesetzten erhält, nachdem man sich selbst Chancen auf diesen Posten ausgerechnet hat. Das sind grössere Reibungsflächen als statistische Lohnrückgänge.
Sie sprechen von einer Dynamik der Zuwanderung, die die Schweiz braucht. Wo sehen Sie die Grenzen dieser Dynamik? Bei einer 10-Millionen-Schweiz? Bei 12 Millionen?
Sie verstehen mich falsch. Mit Dynamik meine ich nicht die absolute Zahl der Zuwanderer, sondern die Innovation und Veränderung, die sie auslösen.
Schön, aber trotzdem nochmals: Gibt es eine obere Grenze, was die Bevölkerung der Schweiz betrifft?
Das ist ein politischer Entscheid, den das Land fällen muss. Als Ökonom weiss ich nur: Es gibt nichts gratis. Das gilt für die Zuwanderung ebenso wie für eine Bremsung der Zuwanderung. Deshalb müssen wir auch in dieser Frage Nutzen und Kosten sorgfältig gegeneinander abwägen.
Über die Kosten haben wir uns unterhalten. Wo ist der Nutzen?
Ohne Zuwanderung liessen sich unser Gesundheitswesen und die Pflege der Alten und Kranken niemals auf dem heutigen Stand halten. Wollen wir das? Und die Schweiz als Forschungs- und Wissensstandort könnten wir auch vergessen. Wollen wir das? Dafür müssen wir auch in Kauf nehmen, dass unsere Infrastruktur mehr belastet wird. Aber nochmals, das gilt vor allem für Zürich und Genf.
Sind Sie kürzlich zufällig einmal durch den Aargau gewandert?
Gewandert nicht. Durch den Aargau fahre ich meistens.
Man sieht aber auch aus dem Auto oder der Bahn, dass gerade dort die Zersiedelung unaufhörlich fortschreitet.
Wenn ich von Zürich und Genf spreche, meine ich nicht nur die Städte, sondern die Metropolitanregionen.
Was gehört nicht zu diesen Metropolitanregionen, ausser vielleicht der Jura und das Glarner Hinterland?
Graubünden, die Ostschweiz, die Zentralschweiz, Wallis, das Tessin … Aber ich will nicht leugnen: Wenn wir allein das Schweizer Mittelland betrachten, bewegen wir uns auf dem Niveau von Holland, dem am dichtesten besiedelten Land Europas. Aber umgekehrt sollten wir nicht vergessen: Jede Grossstadt auf dieser Welt hat mindestens so viele Einwohner wie die Schweiz.
Die Schweiz will jedoch keine solche Mega-Stadt werden. Der «Beobachter» hat kürzlich 50 000 seiner Leser befragt. Zwei Drittel davon wollen keine Zuwanderung mehr.
Umfragen, die nicht nach den Kosten und den Konsequenzen fragen, halte ich für wertlos. Man darf nicht nur nach den negativen Folgen der Zuwanderung fragen, man muss auch fragen: Wer pflegt euch, wenn ihr krank oder alt seid? Über solche Fragen muss dieses Land eine ausführliche Debatte führen.
Die Debatte ändert sich. Neuerdings stehen nicht mehr die Hilfsarbeiter aus Drittländern in der Kritik, sondern die Facharbeiter und Akademiker aus der EU, hauptsächlich aus Deutschland.
Ich bin selbst als Ausländer 1969 in die Schweiz gekommen. Diese Debatte wurde damals schon geführt. Denken Sie an die Schwarzenbach-Initiative. Es ist unmöglich, einen optimalen Mix von Einheimischen und Zuwanderern theoretisch zu definieren. Was man aber sicher sagen kann, ist, dass beide Extreme in die Irre führen: Es wäre falsch, die Grenzen vollständig zu öffnen. Die Schweiz hat heute schon einen höheren Ausländeranteil als die klassischen Einwanderungsländer USA und Kanada. Und es wäre umgekehrt genauso falsch, die Schotten dichtzumachen. Das ist keine Lösung.
Was ist denn die Lösung?
Die Schweizer Stärken und die Identität zu bewahren und gleichzeitig offenzubleiben. Das ist eine extrem schwierige Gratwanderung, aber die Schweiz hat diese Gratwanderung bisher besser gemeistert als die meisten anderen Länder.
Wann sind Sie Schweizer geworden?
1982.
Was waren Ihre Schweizermacher-Erfahrungen?
Der Polizist Rot kam zur Familie Schwarz nach Hause. Wir haben uns hauptsächlich über die Vorarlberger Bergwelt unterhalten …
Das hat gereicht?
Herr Rot war nicht nur ein sehr menschlicher Polizist, sondern auch ein begeisterter Wanderer. Und meine Schweizer Frau und mein Arbeitgeber waren sicher auch kein Schaden.
Haben Sie auch einen österreichischen Pass?
Ja, seit einigen Jahren wieder.
Wollen Sie sich für alle Fälle absichern?
Nein, gewiss nicht. Die Schweiz ist eindeutig meine Heimat geworden und wird es auch bleiben. Bei meiner Einbürgerung musste ich den österreichischen Pass abgeben. Vor ein paar Jahren hat man mich informiert, dass ich jetzt wieder einen erhalten könnte, wenn ich es wünsche. Das habe ich gerne angenommen.
Was haben Sie als schweizerisch-österreichischer Doppelbürger für ein Verhältnis zu EU?
Ich bin der Meinung, dass es für die Schweiz mehr Gründe gibt, einen eigenständigen Weg zu gehen als der EU beizutreten. Meinen österreichischen Freunden sage ich jeweils: Für Österreich war der EU-Betritt gut, für die Schweiz wäre er schlecht.
Weshalb?
Weil die Schweiz mit ihren politischen Institutionen und Besonderheiten viel mehr zu verlieren hätte und weil sie wirtschaftlich viel wettbewerbsfähiger ist, als es Österreich zum Zeitpunkt des Beitritts war. Und mit einer Prise Ironie füge ich hinzu: Wir wären auch für die EU ein schwieriges Mitglied.
Wie meinen Sie das?
Ich sage zu EU-Vertretern oft: Seid froh, dass ihr uns nicht als Mitglied habt. Wir wären so lästig, dass ihr euch hintersinnen würdet. Das ist nur teilweise ironisch gemeint, es steckt ein wahrer Kern in dieser Aussage. Die Schweiz wäre geradezu prädestiniert, das schwierigste und widerspenstigste Mitglied im EU-Club zu werden, nicht aus Bösartigkeit, sondern wegen unserer Institutionen und unseres politischen Selbstverständnisses.
Sind wir jetzt nicht einfach die ungeliebten Rosinenpicker Europas?
Das ist überhaupt nicht meine Haltung. Wir sollten für Dinge, von denen wir profitieren, auch bezahlen. Mir geht es nicht darum, ein paar Franken zu sparen. Ich will das politische System der Schweiz nicht aufs Spiel setzen. Dafür bin ich bereit, einen relativ hohen Preis zu bezahlen.
Wären Sie auch bereit, das Steuerdumping gegenüber Europa einzuschränken?
Ich bin ein grosser Anhänger des Steuerwettbewerbs. Der Begriff Steuerdumping ist mir zu wertend. Meinen Sie die Pauschalbesteuerung?
Beispielsweise.
Ich habe in dieser Frage zwei Seelen in meiner Brust. Ich halte es für grundsätzlich legitim, dass ein Land, eine Gemeinde, einem reichen Ausländer, der in die Schweiz zieht, steuerliche Vorteile gewährt.
Warum darf der Ausländer besser gestellt werden als der Schweizer?
Ich komme vom Clubgedanken her. Angenommen, wir gründen zu dritt einen Club und investieren viel Arbeit und Geld in das Projekt. Wenn ein Vierter mit gleichen Rechten dazu stösst und zu den Kosten beiträgt, nützt dies allen, selbst wenn er weniger beiträgt als die ursprünglichen drei. Diese müssen allerdings damit einverstanden sein.
Deutsche, Franzosen oder Italiener sehen das anders. Ihnen geht sehr viel Geld verloren, wenn wir die Reichen in den Schweizer Club aufnehmen.
Sie sind selbst nicht alle Chorknaben. Man kann von den anderen nur fordern, was man selbst auch bereit ist zu geben. Wenn man sich daher innerhalb der EU und mit der Schweiz einigen könnte, dass man Zuzügern keine Privilegien gewährt, sie also de iure und de facto nicht anders behandelt als Inländer, dann könnte man die Pauschalbesteuerung sicher opfern – erst recht, wenn uns das helfen würde, ausserhalb der EU, aber in Frieden mit der EU zu leben.
Sie sind ein Anhänger des Leistungsprinzips. Besteht nicht die Gefahr, dass wir mit unseren tiefen Steuern einen eher leistungsunwilligen Geldadel in die Schweiz locken?
Reichtum und Leistungsorientierung sind kein Gegensatz. Nicht selten sind Reiche durch Leistung reich geworden. Und reiche Menschen machen etwas mit ihrem Geld, sie geben es nicht einfach aus, sondern sie investieren es wohl zum grössten Teil – hoffentlich sinnvoll …
Was ist mit der Erbschaftssteuer? Selbst liberale Ökonomen fordern ihre Wiedereinführung.
Aus liberaler Sicht gibt es zwei Positionen. Die eine sagt, alle Menschen sollen das Leben mit der gleichen Grundausstattung beginnen.
Warum lehnen Sie dieses an sich logische Prinzip ab?
Wenn Sie das konsequent zu Ende denken, müssen Sie Säuglinge kurz nach der Geburt in eine Krippe einweisen, damit sie keine Bildungs- und Erziehungsvorteile mehr geniessen. Dieses Experiment am lebenden Menschen ist gescheitert. Wir sollten es nicht wiederholen. Ganz abgesehen davon, dass die Talente ohnehin ungleich verteilt sind.
Und wie lautet die andere liberale Sichtweise auf das Erben?
Sie geht vom Schutz des Privateigentums aus und fragt mit Recht, weshalb das Privateigentum mit dem Tod aufhören und an den Staat fallen soll. Eine gewisse Sympathie hätte ich für den Ersatz von Vermögens- und Einkommenssteuern durch Erbschaftssteuern, aber alle politische Erfahrung sagt mir, dass wir am Schluss eine neue Steuer einführen und die alte nicht abschaffen.
Aber dieser reiche Geldadel, der auch in der Schweiz entsteht, widerspricht doch auch Ihren liberalen Prinzipien?
Grundsätzlich sehe ich kein Problem, wenn Menschen sehr viel Geld verdienen. Es stört mich auch persönlich nicht. Ausserdem haben wir in der Schweiz eine progressive Einkommenssteuer, eine sehr progressive sogar. Sie sorgt für eine enorme Umverteilung. Der Staat wird zu etwa 80 Prozent von den natürlichen Personen finanziert. Und davon zahlen die obersten 20 Prozent der Einkommen etwa 45 Prozent. Was täten wir ohne sie? Das sind ja keineswegs nur Superreiche. Zudem vertrete ich in dieser Frage auch einen moralischen Standpunkt.
Nämlich?
Reichtum verpflichtet, Adel verpflichtet, Geldadel verpflichtet doppelt. Für mich ist deshalb entscheidend, was Reiche mit ihrem Reichtum machen. Ich bin ein überzeugter Vertreter des Mäzenatentums, des Prinzips, wonach Reiche für Kunst und wohltätige Zwecke spenden sollen.
Früher waren sie NZZ-Wirtschaftschef. Jetzt sind Sie Direktor einer Denkfabrik. Ist das nicht ein Abstieg?
Ich habe diesen Wechsel frei gewählt. Als Abstieg empfinde ich ihn keineswegs. Sonst hätte ich ja nicht so entschieden. Als überzeugter Liberaler plädiere ich zudem für das Recht auf Unvernunft – nur, mir scheint dieser Wechsel wie gesagt alles andere als unvernünftig.
Die meisten Journalisten werden jedoch im Alter Konzernsprecher.
Da würde ich mich in meiner Unabhängigkeit viel zu stark eingeschränkt fühlen.
Apropos Unabhängigkeit: Sie sind in der Wirtschaft auch sehr gut vernetzt.
Ist das ein Widerspruch?
Man spricht gelegentlich von Filz.
Ich habe auch als Journalist nie Angst davor gehabt, dass gute Beziehungen meine Unabhängigkeit gefährden könnten. Das gilt auch heute noch. Zudem trenne ich Privatleben und Beruf ziemlich strikt.
Ist es nicht so, dass sie als liberales Gewissen bei den Förderern von Avenir Suisse gar nicht anecken können? Sie sind – übertragen ausgedrückt – so katholisch, dass Sie nie in Konflikt mit dem Vatikan geraten.
Natürlich vertrete ich eine weltanschauliche, eine marktwirtschaftliche Position. Wir stehen der Wirtschaft nahe, und ich könnte Avenir Suisse nicht in eine sozialistische Denkfabrik umwandeln. Aber täuschen Sie sich nicht: Wenn es um ihre Sonderinteressen geht, dann sind Unternehmer und Manager oft gar nicht so liberal, so marktwirtschaftlich. Da kann man als liberales Gewissen sehr wohl anecken – am früheren Ort genauso wie hier. Das Gewissen ist ja oft unangenehm. Und – um in Ihrem Bild zu bleiben – es gibt keinen fest definierten liberalen Katechismus. Er muss immer wieder neu geschrieben werden. Wichtig ist, dass ich nicht von Tabus eingeengt werde.
An welche Tabus denken Sie?
Beispielsweise an die Berührungsängste mit der SVP, teilweise auch mit der SP. Mir sind die Liberalen in allen Parteien lieb.
Sie sind Vater von drei erwachsenen Töchtern. Sind diese ebenso vom Liberalismus beseelt wie Sie?
Sie sind ein bisschen weniger liberal als ich. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.
Haben Sie Ihre Kinder liberal erzogen?
Wahrscheinlich eher nicht, zumindest nicht, wenn für Sie liberal «anything goes» bedeutet. Umgekehrt pflege ich immer wieder zu sagen: In der Familie darf durchaus Kommunismus herrschen.
In Ihrem Buch schreiben Sie: Erfolg ist oft mehr das Resultat von Glück als von Leistung. Wie sieht diese Bilanz bei Ihnen aus?
Am Ende überwiegt fast immer das Glück – oder besser: der glückliche Zufall.
Dieser Artikel erschien in der SonntagsZeitung vom 1. Mai 2011