Europa wankt, der Schweiz geht es blendend. Scheinbar unangetastet navigiert die Wohlstandsinsel durch Wirtschafts- und Finanzkrisen. Wie stark befeuert das Gefühl der ewigen Verschontheit die Angst vor Abstieg und Verlust?

In der Schweiz haben selbst die Armen viel Geld. Kurz vor Weihnachtenerschienen zwei Berichte, die in unserem Land die Armutsgefahr heraufbeschworen. Der vonSP-RegierungsratPhilippe Perrenoud verantwortete Berner Sozialbericht kommt – auf den ersten Blick – zu einem ernüchternden Fazit für die staatliche Umverteilungspolitik: Das verfügbare Einkommen der ärmsten Berner Haushalte sei in den vergangenen zehn Jahren um 20 Prozent gesunken, während die mittleren und oberen Einkommen ihr Niveau gehalten oder gar verbessert hätten.

Ein paar Tage später publizierte das Bundesamt für Statistik eine gesamtschweizerische Erhebung über Einkommen, Lebensbedingungen und materielle Entbehrungen. Fast jede siebte Person in der Schweiz soll nach dieser Studie davon bedroht sein, in die Armut abzugleiten. Als armutsgefährdet geltenMenschen, die mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens auskommen. In Zahlen heisst das: Man lebt in finanziellenUmständenwie eine Familiemit zwei Erwachsenen, zwei Kindern und einem monatlichen verfügbaren Einkommen von 5100 Franken oder weniger. In andern Ländern würde man damit zum Mittelstand gehören. In der Schweiz giltman als arm.

Insel der Unversehrtheit

Nur Luxemburg und Norwegen leisten sich eine noch höhere Armutsschwelle. Selbst wenn man die horrenden Lebenshaltungskosten auf der Hochpreisinsel Schweiz in eine europäische Vergleichsrechnung einbezieht, bleibt unser Land klar überlegen: Der durchschnittliche Lebensstandard einer armutsgefährdeten Person ist in der Schweiz spürbar höher als etwa in den Nachbarländern Deutschland, Frankreich oder Italien.

Das lindert die subjektive Not armer Menschen zwar nicht, unterstreicht aber die Lage der Schweiz als unversehrte Insel im kriselnden Europa. Jedes Jahr publiziert der Bund die handliche Taschenstatistik, die das Land auf wenigen Seiten vermisst und durchleuchtet. Es ist die fast gespenstische Diagnose einer Ausnahmestellung, die unsere Normalität ist.

Insel der Vermögen

Während in den Ländern rundum der materielle Wohlstand bröckelt, hält sich die Schweiz in praktisch allen Rankings zuoberst: Die Allianz-Versicherung bestätigte im Herbst 2012 in ihrem globalen Vermögensreport den Status der Schweiz als reichstes Land der Welt. In der Rangliste des Nettogeldvermögens pro Kopf (Vermögen abzüglich Schulden) führt die Schweiz mit umgerechnet 167000 Franken unangefochten vor Japan und den USA. Der «Vorsprung» beträgt rund 50000 Franken. In Europa kommt Belgien der Schweiz amnächsten – der Rückstand beträgt über 80000 Franken. Die UNO attestiert der Schweiz, das wettbewerbsfähigste Land der Welt zu sein. Und auch für den beruflichen Ruhestand hat die Schweiz – im internationalen Vergleich – hervorragend vorgesorgt: Nur in den Niederlanden liegen pro Kopf höhere Pensionskassenguthaben auf der Seite.

Insel der Beschäftigung

Weitgehend spurlos sind die Wirtschafts- und Finanzkrisen der letzten Jahre an der Schweiz vorbeigegangen. Bei der Beschäftigung zeigt sich die Sonderstellung am deutlichsten. Acht von zehn Schweizern im erwerbsfähigen Alter (15- bis 64-jährig) sind bereit, einer bezahlten Arbeit nachzugehen– Weltrekord. Kein Land hat eine tiefere Arbeitslosenquote als die Schweiz. Sie verharrt bei uns bei rund 3 Prozent, im Schnitt der EU-Länder bewegt sie sich auf über 10 Prozent. Aus der Sicht von Mittelstandsfamilien noch drastischer ist der Vergleich bei der Jugendarbeitslosigkeit: Während in der EU jeder fünfte unter 25-Jährige keinen Job findet, sind es in der Schweiz weniger als 4 Prozent. In südeuropäischen Ländern sind teilweise über 50 Prozent der Jugendlichen ohne Arbeit – eine verlorene Generation. Schweizer Jugendliche dagegen haben Zukunftschancen, selbst wenn die Schulkarriere durchzogen war, dank immer mehr nachobligatorischer Bildungspasserellen.

Insel der gefühlten Krise

Dem schweizerischen Mittelstand geht es hervorragend. In allen wichtigen Mittelstandskriterien – Einkommen, Vermögen, Beschäftigung – liegt die Schweiz an der Spitze. Trotzdem fühlt sich der Schweizer Mittelstand in der Krise.

Wer viel hat, kann viel verlieren. Die Kehrseite der statistisch nachweisbaren Schweizer Sonderposition ist die statistisch nicht erfassbare Verlustangst. So geht es nicht mehr lange weiter! Wir müssen uns auf härtere Zeiten gefasst machen! Sätze wie diese gehören zu den beliebtesten im rhetorischen Arsenal schweizerischer Politiker und CEOs. Wahr sind sie bis jetzt nicht geworden, der materielle Verlust auf der Wohlstandsinsel Schweiz ist ausgeblieben.

Realität geworden ist hingegen die Furcht davor – und sie hat vor allem den Mittelstand erfasst. In seinem kürzlich erschienenen Buch rückt der liberale Thinktank Avenir Suisse die eher selten diskutierte mentale Verfassung des «strapazierten Mittelstands» in den Fokus. Es ist zwar eine Tatsache, dass der finanzielle Spielraum von Mittelstandsfamilien eng werden kann. Trotz Mehrverdienst kann es passieren, dass wegen wegfallender Prämienverbilligungen und der Steuerprogression Ende Monat weniger Geld zur Verfügung steht.

Insel der Statussorgen

Die Verlustangst greift allerdings schon in einem früheren Stadium um sich. Laut den Avenir-Suisse-Autoren charakterisiert sich der Mittelstand nicht nur durch seine tatsächliche wirtschaftliche Lage, sondern ebenso sehr durch seine Erwartungen und Ambitionen. Salopp gesagt: Zum Selbstverständnis der Mittelschicht gehört es, während der Berufslaufbahn sozial aufzusteigen, sich materiell zu verbessern und den Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Steigende Ansprüche sind eine Selbstverständlichkeit: mehr Wohnraum, mehr Mobilität, mehr Elektronik. Schon Stagnation bedeutet eine Bedrohung dieses Lebensentwurfs – selbst wenn er auf dem hohen Niveau der Schweiz stattfindet.

Deshalb, schreibt Avenir-Suisse-Autor Daniel Müller-Jentsch, sei der schweizerische Mittelstand «anfällig für Statusängste und Zukunftssorgen». Dass sich in umliegenden Ländern neue Unterschichten – etwa Hartz-IV-Empfänger in Deutschland – bilden, schärft das Bewusstsein für das Abstiegsrisiko. Dazu kommen soziale Entwicklungen im eigenen Land: In der Schweiz wird jede zweite Ehe geschieden – und Scheidungen gehören zu den grössten Armutsrisiken für den Mittelstand. Gleichzeitig wird die Eintrittsschwelle zum Mittelstand höher. Eine Berufslehre reicht nicht mehr – ständige Weiterbildungen sind nötig, damit man à jour ist und nicht stehen bleibt.

Nicht aufzusteigen, nicht noch mehr zu bekommen, Verzicht zu leisten: Das fühlt sich an wie ein Abstieg. Das ist die Krise des schweizerischen Mittelstands.

Insel der Ernsthaftigkeit

Wird die Verlustangst 2013 das politische Leben beeinflussen? Der Politgeograf Michael Hermann, Inhaber der Forschungsstelle Sotomo in Zürich, bezweifelt, dass der Leidensdruck gross genug ist. Echter sozialer Abstieg würden die allermeisten nur aus Auslandnews kennen und schlössen es für sich selber aus. Allerdings, hält Hermann fest, schlummere in der Gesellschaft durchaus ein leises Gefühl, nicht für immer verschont zu bleiben. Verlustängste machen sich laut Hermann heute am ehesten an der um sich greifenden Wachstumsskepsis und an einem gewissen Vertrauensverlust gegenüber der Wirtschaft bemerkbar.

Die verbreitete Sorge, dass die Krise zur Stärkung der politischen Extreme und zur Spaltung der Gesellschaft führe, bestätige sich dagegen nicht. Selbst in Krisenstaaten wie Griechenland hätten in den jüngsten Wahlen die Extremparteienweit schlechter abgeschnitten als erwartet. Wenn überhaupt, dann liest Hermann aus den jüngsten städtischen oder kantonalen Wahlen in der Schweiz eher einen «Trend zur Ernsthaftigkeit», tendenziell weg von schrillen, kontroversen Figuren zu eher pragmatischen, lösungsorientierten Parteien und Persönlichkeiten.

Keine schlechte Botschaft für den Start ins Politjahr 2013.

Dieser Artikel erschien in der «BernerZeitung» vom 5. Januar 2013.