Wieweit hat die Finanz- und Wirtschaftskrise die moralische Grundlage in westlichen Gesellschaften beeinträchtigt? Gilt es Schäden zu beheben, sind Schutzmassnahmen dringlich, wie kann die liberale Sicht in der Politik erfolgreich «verkauft» werden? Diese Fragen waren am Freitag Themen einer Tagung, die der Think-Tank Avenir Suisse zusammen mit dem deutschen «Kollegen», dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW), unter dem Titel «Von der Systemkrise der Wirtschaft zur Wertekrise der Gesellschaft» durchführte.

Für einen aussenstehenden Beobachter, dem liberale Ordnungen am Herzen liegen, war es am Schluss allerdings nicht einfach, einen Überblick über die Vielfalt der formulierten Antworten zu erlangen und eine Orientierungshilfe daraus zu gewinnen. Dabei hatte man sich nach dem Eröffnungsreferat von Avenir- Suisse-Direktor Gerhard Schwarz doch fest vorgenommen, «voll mitzuziehen», also beim Identifizieren und Verteidigen liberaler Werte innerlich mitzumachen.

Schwarz legte dar, dass auch Liberale eine zeitgemässe Vision brauchten, die nicht nur den Kopf, sondern auch das Herz anspreche. Auch taktische Gründe seien relevant: Konservative wie Sozialisten seien in hohem Masse Moralisten, so seien auch von liberaler Seite her Werte wichtig für den Erfolg im politischen Prozess. Die Nachfrage nach Werten soll nicht einfach vom unliberalen Lager befriedigt werden, und zentral seien Werte, die mit der Freiheit vereinbar seien.

Ähnlich argumentierte IW-Direktor Michael Hüther; Werte seien zwar nicht Sache der Ökonomik bzw. des Homo oeconomicus, aber der Mensch sei auch ein Homo sociologicus, Teil einer Gemeinschaft und unter dem Einfluss von Werten. Dominik Enste (IW) zeigte empirisch, wie in Deutschland trotz guter Wirtschaftslage und wachsendem Wohlstand die Akzeptanz einer liberalen Ordnung ständig abnehme.

Akzeptanz ergebe sich nicht einfach intuitiv, sondern müsse immer wieder gewonnen werden. Ähnliche Befunde präsentierte Thomas Petersen (Institut für Demoskopie, Allensbach), wonach in Deutschland die «gefühlte Gerechtigkeit» abgenommen habe, obschon Einkommensund Konsumzahlen eine andere Sprache sprächen. Die Werte der Deutschen hätten sich insgesamt nach links verschoben, auch durch die DDR-Integration.

Für das Etablieren starker Werte plädierte die jemenitisch-schweizerische Doppelbürgerin Elham Manea (Universität Zürich), die die Menschenrechte, die Gleichberechtigung von Mann und Frau als Grundlage einer freien Gesellschaft forderte. Nils Goldschmidt (Hochschule für angewandte Wissenschaften, München) hält eine gesellschaftliche Grundlage ebenfalls für notwendig, rückte aber die Gerechtigkeit in den Vordergrund, konkret den via Politik gefundenen Konsens beispielsweise über die soziale Absicherung.

Relativierend wirkte dann aber Pfarrer Peter Ruch (Küssnacht), der den Begriff Werte auch etymologisch anging und darlegte, dass sogar dynamische bis unstabile Worte wie «drehen» und «werden » damit zusammenhängen. Noch etwas verunsichernder war Guy Kirsch (Prof. cm. Universität Freiburg i. Ü.), der den Menschen als interessengeleitetes Wesen sah und postulierte, es gebe weniger einen Mangel als vielmehr ein Überangebot an Werten (oder Zielen). Aus vielfältigsten Wertesegmenten könne man ja wählen, was man ausleben wolle. Ernüchternd wirkten aber vor allem die aus philosophischer Sicht lancierten Voten von Michael Zöller (Universität Bayreuth) und Uwe Justus Wenzel (NZZ Feuilleton), die mit dem Hinweis auf die «Tyrannei der Werte» davor warnten, eine Art kollektiv gültige Wertebasis festlegen zu wollen. Rasch bedrohe man die Freiheit dadurch, dass man sie falsch verteidige, etwa durch die Ergänzung um Werte, die sie schmälerten. So wichen die anfänglich enthusiastischen Gedanken liberaler Beobachter an ein «volles Mitziehen » endgültig einem Grübeln.

Dieser Artikel erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» am 20. Juni 2011
Mit freundlicher Genehmigung der «Neuen Zürcher Zeitung»