Im Jahr 2015 jährte sich die Schlacht von Marignano zum 500-ten Mal. Im Gedenkjahr kreuzten nicht mehr Söldner die Klingen, sondern Historiker, Politiker und Geschichtsinteressierte. Gestritten wurde über die Deutung von Marignano: War das Gemetzel die Geburtsstunde der Schweizer Neutralität? Obwohl diese These dazumal längst wissenschaftlich widerlegt war, vermochte die identitätsstiftende Dimension des Mythos Marignano die Gemüter zu erhitzen.

Gemäss der Studie «Sicherheit 2018» des Centers for Security Studies ist die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer davon überzeugt, dass die Schweiz dank ihrer Neutralität nicht in internationale Konflikte hineingezogen wird. Diese Haltung geht wohl auf die sorgsam kultivierte Vorstellung zurück, dass es der Schweiz am besten gehe, wenn sie sich auf sich selbst konzentriert und sich von den unruhigen Gewässern zwischenstaatlicher Machtpolitik fernhält. Denn diese Gewässer seien in den beiden Weltkriegen bekanntlich zu tobenden Fluten geworden. Das schweizerische Neutralitätsverständnis dürfte eine Erklärung für die aussenpolitische Passivität und die Skepsis gegenüber europäischen und internationalen Friedensprojekten sein.

Weniger absolut, mehr relativ

Das Bild der absolut souveränen, unabhängigen «Insel-Schweiz» stimmte jedoch noch nie und erhält seit Jahrzehnten immer mehr Risse: Zum einen wurde die Schweiz durch das Einwirken europäischer Herrscher zum souveränen, neutralen Staat. Zum anderen ist die Schweiz seit jeher wirtschaftlich und politisch eng mit Europa verflochten. Die Schweiz kann grundlegende öffentliche Güter wie Sicherheit, Frieden, Freiheit und Wohlstand – wie übrigens andere Staaten auch – nicht vollkommen eigenständig garantieren. So machen beispielsweise kriminelle Organisationen sowie der Klimawandel nicht an Staatsgrenzen halt und Wirtschaftskrisen haben häufig globale Auswirkungen. Was bedeutet das nun für die Zukunft?

Es gehe nicht darum, – diesbezüglich waren sich die Podiumsteilnehmer einig –, die Funktionen und den Wert der modernen (National-)Staatlichkeit kleinzureden. Vielmehr müsse sie relativiert werden. Moderne Staatlichkeit dürfe nicht sakralisiert, sondern müsse in Beziehung zur Realität der internationalen Verflechtungen gesetzt werden. Konzepte von Souveränität, Neutralität und Unabhängigkeit sollten deshalb fernab irgendwelcher Nationalismen hinterfragt und weitergedacht werden. Es sei möglich, dass wir in der Schweiz selbstbestimmter leben würden, wenn wir über Stimmrechte in internationalen oder supranationalen Organisationen verfügten. Beim Begriff «autonomer Nachvollzug» von EU-Recht handle es sich jedenfalls klarerweise um eine Beschönigung der gegenwärtigen Situation.

In Szenarien denken und diskutieren

Fruchtbarer als der Streit über die Geburtsstunde der Schweizer Neutralität, Souveränität und Unabhängigkeit ist die Frage nach der Zukunft: Wie muss sich die Schweiz international positionieren, um ihren Bewohnern einen bestmöglichen Lebensstandard zu ermöglichen. Wie können supranationale Organisationen demokratischer werden? Und wie lassen sich Visionen für ein geeintes Europa verständlich, glaubwürdig und ergreifend vermitteln? Anknüpfungspunkte für eine konstruktive Diskussion bieten das «Weissbuch Schweiz» und die Publikation «Souveränität im Härtetest».

Titelbild: Photo by Tom Grimbert (@tomgrimbert) on Unsplash