Der Avenir-Suisse-Ökonom und ETH-Dozent Marco Salvi kritisiert den Wirtschafts-unterricht im Lehrplan 21. Zwinglianisch und laienhaft seien die Lernziele. Und nicht nur das.
TagesAnzeiger: Der neue Lehrplan ist Ihrer Ansicht nach zu konsumkritisch, warum?
Marco Salvi: Wenn man etwas über die Wirtschaft lehren will, dann kann man nicht nur die negativen Seiten beleuchten. Konsum ist ein wesentlicher Teil unseres Wohlstandes.
Sie befürchten, dass die Schüler durch die Beschäftigung mit dem Thema Konsum ein schlechtes Gewissen bekommen. Sollten sie das nicht? Leben wir nicht in einer Zeit des Überkonsums?
Klar, Konsum ist nicht alles im Leben. Aber man kann auch nicht alles verteufeln. Viele Neuerungen machen uns das Leben auch einfacher. Nehmen wir das Beispiel der Kontaktlinsen. In den letzten Jahrzehnten hat dort eine enorme Entwicklung stattgefunden von der harten Linse bis zu atmungsaktiven Linsen, die auch über Nacht getragen werden können. Diese Innovationen und die Vielfalt sind durch den Wettbewerb entstanden. Auch sie sind ein Produkt unserer «Konsumgesellschaft». Der Lehrplan ignoriert diese Aspekte und ist damit stark ideologisch gefärbt.
Sind Wirtschaftstheorien nicht immer ideologisch?
Sicher auch, aber dennoch haben sie den Anspruch, uns die Welt, die wir kennen, zu erklären. Problematisch ist hier die einseitige Vermittlung. Die Kinder werden in Watte gepackt. Man will sie vor Fehlentscheidungen schützen und entmündigt sie dazu im Denken. Das ist falsch.
Die natürlichen Ressourcen sind beschränkt, unsere Kinder werden weniger zur Verfügung haben als noch ihre Grosseltern. Ist es unter diesem Aspekt nicht ratsam, sie auf eine Zukunft vorzubereiten, die weniger konsumgetrieben ist?
Das ist eben der Widerspruch. Die Ökonomie ist die Wissenschaft der Knappheit. Sie zeigt, wie der Markt helfen kann, Probleme wie etwa die Umweltverschmutzung in den Griff zu bekommen. Über den Preis kann man viel besser lenken als über Verbote.
Aber der Markt kennt keine Moral. Das Recht des Stärkeren gilt. Ist das nicht problematisch?
Wir müssen hier zwischen der Ökonomie als Wissenschaft und der Moral unterscheiden. Wie Löhne gebildet werden, ist eine ökonomische Frage. Dennoch kann man die Verteilung als ungerecht empfinden. Meine Kritik richtet sich aber an die Vermittlung des ökonomischen Denkens.
Wäre es nicht an den Eltern, ihren Kindern kritisches Denken im Bereich Konsum mitzugeben?
Bestimmt. Aber da mische ich mich nicht ein.
Anders gefragt: Wären die Eltern überhaupt in der Lage, komplexe ökonomische Zusammenhänge an den Nachwuchs weiterzugeben?
Verschiedene Studien attestieren Schülern schlechte wirtschaftliche Grundkenntnisse. Das sagt ja auch viel aus. Darum macht es Sinn, dass die Schule gewisse Grundelemente vermittelt, beispielsweise wie Märkte funktionieren.
In der Begleitgruppe für den Fachbereich Wirtschaft war niemand mit ökonomischem Hintergrund dabei. Merkt man das?
Die Vorgaben im Lehrplan sind laienhaft. Das verwundert mich gar nicht. Da bewegen wir uns weit weg vom Mainstream der Ökonomie, wie sie heute praktiziert wird.
Der wäre?
Etwa die breit anerkannte Vorstellung, dass Wettbewerb ein Treiber von Wachstum und Innovation darstellt. Gerade die Schweiz, die im Bereich der Innovation sehr erfolgreich wirtschaftete, braucht hier Nachwuchs.
Sie schreiben in einem Artikel, der Lehrplan lese sich wie ein Sammelsurium von vorgefassten Meinungen. Was meinen Sie damit?
Grundsätzlich ist es sehr viel einfacher, das Thema Konsum in 30 Sekunden zu zerreissen, als die Funktionsweise der Marktwirtschaft zu erklären. Hier schlagen die Vorgaben immer in dieselbe Kerbe. Die Lernziele haben allesamt einen zwinglianischen Anstrich.
Wenn Sie den Lehrplan schreiben könnten, was müsste rein?
Die Kinder müssen über die Gesellschaft und wie sie funktioniert Bescheid wissen – dazu gehört auch die Wirtschaft. Konsum ist doch keine Sünde.
Dieses Interview erschien im «Tages-Anzeiger Online» vom 20. November 2013. Mit freundlicher Genehmigung des Tagesanzeigers.