In Gesprächen mit Schweizer Unternehmern dauert es meist nicht lange, bis man auf die Frankenstärke zu sprechen kommt. Sie macht zu schaffen und wäre daher ein guter Anknüpfungspunkt für eine mutige wirtschaftspolitische Erneuerung. Doch von Politikern jeglicher Couleur hört man mehrheitlich, es bestehe kein Bedarf an grundlegenden Reformen. Die Schweiz stehe in allen Ranglisten weit oben, und ein Blick in die Nachbarländer zeige, wie gut es der Schweiz gehe. Gemessen am europäischen Chaos geht es ihr zwar tatsächlich gut, doch ist Selbstzufriedenheit immer der Beginn des Niedergangs, der meist fast unmerklich beginnt. Und leider ist die Schweiz wohlstandsverwöhnt geworden. Das lässt sich an drei Tendenzen erkennen.
Vom Sicherheitsstreben zur Überregulierung
Wir schlagen uns, erstens, in Politik und Gesellschaft immer mehr auf die Seite der Sicherheit. Dass wir gleichzeitig im Privaten mit riskanten Sportarten den ultimativen Kick suchen, unter streicht die Absurdität. Dem Sicherheitsstreben entspringt ein Hang zur Überregulierung, der leider von Unternehmen oft mitgetragen wird. Ihm ist ferner jene zukunftsgefährdende Energiewende geschuldet, die sich neuen Technologien, etwa in der Kernenergie, völlig verschliesst. Ins gleiche Kapitel gehört die Technikfeindlichkeit, die dazu führt, dass die Schweiz als Forschungs- und Patentstandort gedeiht, aber die Umsetzung in marktfähige Produkte oft anderswo erfolgt. Auch der paternalistische Bevormundungsstaat mit seiner Sorge um unser Wohlbefinden entspringt der gleichen Haltung. Und in unserem Umgang mit wirtschaftlichem Scheitern zeigt sich ebenfalls, dass wir das Eingehen von Risiken – wenn es schiefgeht – fast für unmoralisch halten. Dabei ist das grösste Risiko einer Gesellschaft die Risikoaversion, auf die wir zusteuern. Zweitens entwickeln wir einen Hang, Gleichheit höher zu schätzen als natürliche Unterschiede.
Erklärt wird dies von den einen mit «Gerechtigkeit», von den anderen mit «Neid». So oder so geht dabei vergessen, dass fast jede durch Umverteilung erzielte Angleichung der Einkommen und Vermögen den meisten Grundsätzen der Gerechtigkeit widerspricht. Wer Unterschiedlichkeit und Vielfalt der Menschen als Reichtum empfmdet, wer nicht meint, Gott spielen und Ungleiches einebnen zu müssen, wird Umverteilung nur einsetzen, um den Zugang zur Bildung für alle offen zu halten und um zu verhindern, dass in einer reichen Gesellschaft Menschen unverschuldet darben müssen. Leider braucht es für diese Haltung heutzutage fast Mut, ebenso wie für die Aussage, grosses Elend sei zwar stossend, nicht jedoch grosser Reichtum. Der Hang zur Gleichmacherei ist eine Gefahr für die Schweiz, denn so sehr die Gleichheit vor dem Gesetz eine menschliche Errungenschaft ist, so sehr widerspricht die künstliche Einebnung des Wohlstands der Menschlichkeit. Sie führt in die totalitären Utopien eines Plato oder eines Thomas Morus.
Schliesslich sollten wir, drittens, in der Abwägung zwischen Offenheit und vermeintlich identitätssichernder Abschottung nicht zu sehr in letztere kippen. Es gibt zwar kein Land, das nicht Grenzen pflegt, nicht unterscheidet zwischen «sie» und «wir». Die meisten Länder tun das anhand einer gemeinsamen Sprache und Religion oder auf der Basis natürlicher Grenzen. Das Bemühen, sich mittels dem abzugrenzen, was das Land verbindet – die gemeinsame Geschichte, die Mythen und die politischen Institutionen -, ist also verständlich. Zugleich sind aber Offenheit, Austausch und Diversität Grundlagen von Innovation und Wohlstand – gerade in der Schweiz. Wir verdanken, was wir erreicht haben, neben der Tüchtigkeit und dem glücklichen Zufall in grossem Ausmass auch der Zuwanderung. Wäre die Schweiz nicht – kontrolliert – offen gewesen, nähme sie heute wirtschaftlich, wissenschaftlich und kulturell keinen so prominenten Platz ein. Leider entwickeln wir hier eine ungesunde Vergesslichkeit.
Was wir errungen haben, nicht gedankenlos zerstören
Wir sollten daher nicht mutwillig oder gedankenlos zerstören, was die Quellen unseres Erfolgs waren und sind, sondern die Frankenstärke zum Anlass nehmen, um ebendiese Quellen zu beleben: die Bereitschaft zum Risiko, die Akzeptanz von Ungleichheit und eine grosse Offenheit. Alles andere wäre Verwöhnung und Sattheit.
Dieser Artikel erschien in der «Aargauer Zeitung» vom 19. März 2015.