NZZ am Sonntag: Das Tessin übt eine besondere Anziehungskraft auf Immobilienkäufer aus. Weshalb?

Marco Salvi: Die aktuellen Treiber sind die gleichen wie in der ganzen Schweiz: Zuwanderung, solide Wirtschaftsleistung und tiefe Zinsen. Dazu kommen – wie an anderen schönen Lagen – die Reize der Natur und das Klima, Standortfaktoren, die bei steigenden Einkommen wichtiger werden. Eine wichtige Rolle spielt die Erreichbarkeit, und die wird mit der Neat in ein paar Jahren entscheidend verbessert. Ab 2016 wird man mit der Bahn eine Stunde schneller in Locarno oder Lugano sein. Die Anbindung an die übrige Schweiz wird zunehmen – und damit werden sich auch die Immobilienmärkte angleichen.

Welche Auswirkungen hat die Neat auf den Tessiner Immobilienmarkt?

Der Lötschberg-Basistunnel hat es gezeigt: Heute kann man im Oberwallis wohnen und in Bern arbeiten. Das Tessin wird für Zweitwohnungsbesitzer attraktiver, die über das Wochenende kommen. Aber auch innerhalb des Tessins rücken die Regionen seit langem näher zusammen. Wer in Lugano arbeitet, wo Wohnraum knapp und teuer ist, sucht sich sein Häuschen im Grünen, wo es noch Platz hat und die Preise günstig sind, nördlich von Bellinzona etwa, in der Magadinoebene oder im Mendrisiotto. Diese periurbanen Lagen haben zuletzt am meisten zugelegt.

Treibt die Mobilität die Siedlungsentwicklung?

Das Tessin hat in der Schweiz die höchste Autodichte. Das Netz des öffentlichen Verkehrs ist enger geflochten als noch vor einigen Jahren. Die Bewohner hier sind mobiler geworden. Dabei entwickeln sich die Pendlerströme parallel zu den Immobilienpreisen. Wir haben innerhalb des Kantons noch immer ein Nord-Süd-Gefälle. Man darf aber nicht vergessen: Immobilien im Tessin sind teuer. Trotzdem ist hier wie in der ganzen Schweiz die Eigentumsquote deutlich gestiegen.

Was treibt die Preise?

Als Ökonom muss ich antworten: in erster Linie die steigende Nachfrage. Es gibt den Bevölkerungsdruck, die Einwanderung, dazu Grenzgänger, die sich niederlassen möchten, ferner die Nachfrage nach Zweitwohnungen und ganz generell nach mehr Platz für den Einzelnen. Aber im Gegensatz zum überregulierten Genfer Immobilienmarkt konnte diese Nachfrage durch den Neubau absorbiert werden. Die Tessiner müssen nicht ins nahe Ausland ausweichen, um eine passende Wohnung zu finden.

Das Einfamilienhaus mit Garten ist und bleibt der Traum vieler Tessiner. Woran sieht man das?

Dieses Lebensziel ist tatsächlich weit verbreitet, nicht nur im Tessin. In der Südschweiz ist der Typus aber sehr verbreitet, ein Viertel (26%) ist einstöckig. Viele Tessiner bauen lieber auf der grünen Wiese, anstatt sich im engen Stadtzentrum eine teure Wohnung zu kaufen. Da kann die Planung noch so energisch nach verdichtetem Bauen rufen. Aber letztlich wird sich auch das Tessin dem Trend nicht entziehen können und verdichten. Wenn Boden knapp und teuer wird, sind die Anreize gross, haushälterisch damit umzugehen.

Wird denn zu wenig gebaut?

Im Tessin gibt es ungefähr 200 000 Wohneinheiten, pro Jahr kommen aber nur 2000 hinzu. In den 1990er Jahren, nachdem die Immobilienblase geplatzt war, kam der Bau fast zum Erliegen. Seit 2004 wird jetzt wieder mehr gebaut, aber die Nachfrage ist noch stärker gestiegen. Dazu kommt, dass die Bauwirtschaft hier vom Tiefbau und der Neat getrieben ist. Während in der Schweiz zwei Drittel der Bauaufträge von Privaten kommen, sind es im Tessin nur 43%.

Wo könnte man denn noch bauen?

Es gibt aber auch noch Platzreserven nahe den Zentren. Eine der grössten liegt in Agno. Den kleinen Flughafen dort könnte man schliessen und überbauen. Mailand Malpensa ist so nahe. Auch in Chiasso mit seinen Industriearealen hat es Platz. Die Stadt ist mit der Grenze gross geworden, mit der offenen Grenze verliert sie wieder an Bedeutung. Das Südtessin wird noch näher an die Lombardei rücken. Unklar ist dagegen, wie sich die Leventina entwickeln wird.

Kommen wir noch einmal auf die Ferienwohnungen zu sprechen.

Heute halten sich bei den Käufern In- und Ausländer etwa die Waage. Die Präferenzen verändern sich. Die typische Ferienwohnung mit nur wenig Umschwung nahe den grösseren Gemeinden wird es tendenziell schwerer haben. Gefragt sind heute kleinere, einfachere und urchige Objekte, Rustici. Und wie gesagt: Die Erreichbarkeit ist ein wichtiger Faktor.

Die Nationalbank hat ihren warnenden Finger erhoben und vor einer Überhitzung des Immobilienmarktes gewarnt. Im Sommer wird es auch im Tessin zuweilen sehr heiss. Aber droht hier eine Überhitzung des Marktes?

Das glaube ich nicht. Zwar wächst im Tessin das Hypothekarvolumen etwas schneller als im Rest der Schweiz, 2010 betrug es 5,6%. Aber für eine Blase reicht das nicht. Die Immobilienpreise werden nach meiner Einschätzung hoch bleiben. Für die Preisentwicklung ist das mittlere Segment des Marktes ausschlaggebend. Wegen des starken Frankens rechne ich mit einer Verschiebung zugunsten von Käufern aus der Schweiz.

Dieses Interview erschien in der «NZZ am Sonntag» vom 4. September 2011.
Mit freundlicher Genehmigung der «NZZ am Sonntag».