Die Wirtschaftswissenschaften pflegen ein mechanisches Denken. Dabei wissen wir  nicht erst seit der letzten Krise: jede Intervention hat unbeabsichtigte Nebenwirkungen.  Der ökonomische Mainstream kommt uns teuer zu stehen.

Das Nachdenken über die Gestaltung und Lenkung von Wirtschaft und Gesellschaft findet nicht im luftleeren Raum statt. Erfahrungen aus anderen Lebensbereichen formen unsere Vorstellungen auch in der Wirtschaftspolitik. Dabei stossen immer wieder zwei unvereinbare Sichtweisen aufeinander, die man die mechanische und die biologische nennen könnte.

Ursache und Wirkung

Die mechanische Sichtweise scheint uns Menschen näher zu sein, sie entspricht einem Denken in Ursache-Wirkung-Zusammenhängen. Wenn ich beim Skifahren den Bergski belaste, stürze ich; wenn ich an der Stellschraube drehe, verschiebt sich der Zeiger nach links; wenn ich eine Tablette einnehme, verschwindet das Kopfweh, ja selbst auf der psychologischen Ebene: wie man in den Wald hineinruft, so tönt es heraus. Das Streben der Menschen, sich die Erde untertan zu machen, die natürliche Umwelt und die Beziehungen zu den Mitmenschen in den Griff zu bekommen, läuft darauf hinaus, zu verstehen, welches Handeln genau was bewirkt, und auf dieser Basis dann folgerichtig die Entscheide zu treffen, um ein Ziel zu erreichen. Kennt man alle Fakten und Einflussfaktoren, braucht es mit Blick auf ein einmal gesetztes Ziel gar keinen Entscheid mehr. Es gibt nur einen Weg, der zum Ziel führt – oder zumindest am besten zum Ziel führt. Der Computer könnte den Menschen ersetzen.

Dabei können die Zusammenhänge ausgesprochen kompliziert sein, so kompliziert, dass sie nur grosse Geister überhaupt erkennen und begreifen können. Auch im kompliziertesten Uhrwerk gilt aber, dass der Ablauf prognostizierbar ist, dass man also weiss: wenn dieses eine Rädchen sich etwas schneller bewegt, dann löst das eine ganz bestimmte, vielleicht unglaublich komplizierte Kettenreaktion aus. Diese mechanischen Zusammenhänge kommen uns Menschen auf vielfältige Weise entgegen: sie entsprechen unserem Wunsch nach Steuerbarkeit, nach Kontrolle; sie befriedigen unser Streben nach Prognostizierbarkeit; sie garantieren, dass, wenn wir etwas tun, am Schluss ein Resultat herauskommt, dass also überhaupt etwas passiert, und sie zeichnen sich meist durch eine gewisse Schnelligkeit aus – die Ergebnisse lassen nur selten Jahrzehnte auf sich warten.

Auch in Wirtschaft und Gesellschaft möchten wir gerne so mechanisch denken und operieren können, nach dem Motto: wenn wir das tun, dann wird das die Folge sein. Die Wirtschaftswissenschaften haben seit ihren Anfängen versucht, zu verstehen, wie die Wirtschaft funktioniert, um auf dieser Basis dann entsprechende Handlungsempfehlungen abgeben zu können. Am Anfang, vor allem bei Adam Smith, standen dabei eher psychologische Beobachtungen im Vordergrund, wie Menschen sich im wirtschaftlichen Kontext verhalten, wie sie auf Anreize reagieren, etwa auf Gewinnmöglichkeiten oder auf höhere Preise. Der Wunsch nach Beherrschbarkeit der Wirtschaft, ganzer Volkswirtschaften, ja der Weltwirtschaft, hat jedoch die ökonomische Wissenschaft zunehmend in die Irre geführt. Sie strebte viel zu sehr einem naturwissenschaftlichen Wissenschaftsideal nach, ruhend auf den beiden Pfeilern Gesetze und Genauigkeit.

Komplexe Systeme

Die Ökonomie ist jedoch eine Sozialwissenschaft. Soziale Gebilde und ihre Untersuchung unterscheiden sich grundsätzlich vom Untersuchungsgegenstand der Naturwissenschaften. Es ist nicht so sehr die Unzahl von Faktoren, die man kennen und beobachten müsste, um gültige Aussagen zu treffen, es ist auch nicht die Tatsache, dass man in der Ökonomie nur reine Wahrscheinlichkeitsaussagen machen kann. Es ist vor allem die Tatsache, dass das Zusammenspiel von Millionen und Abermillionen von Individuen nicht einfach kompliziert ist, sondern komplex.

Was ist damit gemeint? Selbst wenn man alle Einflussfaktoren kennen und erfassen würde, könnte man in der Ökonomie keine wirklich treffsicheren Vorhersagen machen, weil die einzelnen Faktoren unberechenbar sind, weil sie zufällig reagieren, einmal so und einmal so. Das entspricht viel eher biologischen Zusammenhängen als mechanischen.

Trotzdem dominieren in unseren Vorstellungen von Wirtschaft und Gesellschaft Etatismus und Interventionismus. Der Staat soll es richten, heisst es, es brauche ihn als ordnende und kontrollierende Kraft, die sich dem Chaos der Wirtschaft entgegenstelle, die die egoistischen Ziele der Individuen auf ein gemeinsames Ziel ausrichte und die Krisen verhindere. Der Wunsch der Menschen nach einer solchen Kraft, also die Nachfrage nach einer Art Schaltbrett-Ökonomie, ist verständlich, aber er führt in die Irre, weil es sich bei sozialen und wirtschaftlichen Phänomenen eben um komplexe und nicht bloss einfach um komplizierte Zusammenhänge handelt.

Hayek und die Bescheidenheit

Friedrich A. von Hayek hat in einem seiner wichtigsten Aufsätze, «Die Theorie komplexer Phänomene», erschienen 1964 in einer Festschrift für Karl Popper, darauf hingewiesen, dass eine im hier beschriebenen Sinne komplizierte Theorie über Phänomene, die ihrer Natur nach komplex sind, fast notwendigerweise falsch sein muss. Ebenso hat er sich gegen den Glauben gestellt, die Sozialwissenschaften seien einfach noch nicht so weit wie die Physik, und es sei ihnen daher noch nicht gelungen, simple Relationen zwischen nur wenigen beobachtbaren Phänomenen herzustellen. Solche Regelmässigkeiten sind vielmehr bei komplexen Zusammenhängen wie jenen der Wirtschaft schlicht nicht zu erwarten.

Leider haben zu viele Ökonomen in Vergangenheit und Gegenwart nicht diese bescheidene Sicht der Dinge vermittelt, sondern im Gegenteil in der Öffentlichkeit einen Machbarkeitsglauben geschürt und so getan, als könne man die Wirtschaft präzis steuern, so wie Ingenieure eine Maschine. Sie haben also versucht, der Nachfrage gerecht zu werden, statt dass sie darauf hingewiesen hätten, dass in der Ökonomie nur wenige Grundsätze gelten (etwa jener der Opportunitätskosten oder jener der Preiselastizität von Angebot und Nachfrage), dass wir nicht im Nirwana leben, sondern lernen müssen, mit Krisen zu leben, und dass wir bestenfalls Mustervorhersagen über die Entwicklung der Wirtschaft machen können. Selbst unter so manchen marktorientierten Ökonomen ist das an der Mechanik und ihrem Machbarkeitsglauben orientierte Denken weit verbreitet.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass nach der Finanzkrise der (weitgehend fälschlicherweise) mit dem Namen John Maynard Keynes verbundene Interventionismus und Etatismus fröhliche Urständ feiert. Hier paart sich das verbreitete mechanistische Denken mit der Erfahrung, dass der Staat, um Schlimmstes zu verhindern, rettend eingreifen musste. Doch ist diese Nothilfe im Krisenfall, um die Nachfrage anzukurbeln und Vertrauen wieder herzustellen, weder eine Rechtfertigung für eine umfassende interventionistische Wirtschaftspolitik von Tag zu Tag und in allen Lebenslagen, noch ist sie ein Beleg für deren grundsätzliche Wirksamkeit. Inzwischen dürfte nämlich allgemein bekannt und anerkannt sein, dass gerade nicht der liberale Glaube an möglichst wenig Interventionen am Anfang der Krise stand, sondern im Gegenteil der amerikanische Staat mit seiner expansiven Geldpolitik und seiner Ambition, jeder Familie ein Eigenheim zu verschaffen. Das Gemisch aus hyperaktiver, überbordender Finanzpolitik und verantwortungslos expansiver Geldpolitik, das uns die Staaten nun vorsetzen, ist gewiss keine überzeugende Antwort darauf. Warum sollte auf das eine Staatsversagen nicht ein weiteres Staatsversagen folgen, selbst wenn davor neben dem Staatsversagen ohne Zweifel ein moralisches und professionelles Versagen zahlreicher Marktakteure zu beobachten war.

Keynes und der Keynesianismus

Vielleicht lagen ja Keynes (nicht zu verwechseln mit seinen Epigonen) und Hayek gar nicht so weit auseinander: Beide hielten die Psychologie der Marktteilnehmer für äusserst wichtig, beide betonten die Unsicherheit, unter der diese handeln und entscheiden müssen. Aus dieser Konstellation unglaublicher Komplexität sowie aus dieser Beschränktheit unseres Wissens über ökonomische Zusammenhänge heraus hat sich die liberale wirtschaftspolitische Position entwickelt. Sie besteht im wesentlichen im Setzen von Rahmenbedingungen, setzt also nicht auf völlig unregulierte Märkte, verzichtet aber weitgehend darauf, ständig in die Wirtschaftsprozesse einzugreifen. Sie akzeptiert ferner in grösserem Masse ein Auf und Ab der Wirtschaft, das sich wohl etwas glätten, aber nicht verhindern lässt. Sie weiss angesichts der Komplexität und der vielen Wirkungszusammenhänge der Wirtschaft um die vielen «unintended consequences», die Interventionen nach sich ziehen können.

Damit gleicht liberale Wirtschaftspolitik dem konservativen Ansatz in der Medizin, der Eingriffe nur im Notfall vornimmt, wenn es nicht mehr anders geht, bis dahin aber lieber auf die Selbstheilungskräfte des Körpers setzt und allenfalls sogar eine gewisse Einschränkung der Lebensqualität hinnimmt, im Wissen um die Gefährlichkeit jedes Eingriffs und die unvorhergesehenen Folgen, die Operationen haben können. Und sie gleicht auch der Idee eines englischen, möglichst naturnahen Gartens, wo nur behutsam gehegt und gepflegt wird, wo man im grossen Ganzen aber wachsen und blühen lässt, wo man die Pflanzen dort gedeihen lässt, wo ihnen der Standort aus welchen Gründen auch immer besonders gefällt. Vielleicht lernen die Menschen mit der Zeit intuitiv, dass diese Bilder aus der Biologie und aus dem Leben der Wirtschaft mehr gerecht werden als die Anlehnung an die Ingenieurskunst. So weit scheint es allerdings noch nicht zu sein.

Dieser Artikel erschien im «Schweizer Monat» vom Juni 2011.