BERN. «Im internationalen Vergleich hat die Schweiz mit Abstand die kleinsten Gemeinden und eine sehr hohe Gemeindeautonomie: Dies garantiert einen schlanken Staat und ist ein Grundpfeiler des Erfolgsmodells Schweiz.» Zu dieser Feststellung kommt Lukas Rühli in der jüngsten Avenir-Suisse-Studie zum Thema Gemeindeautonomie.
Projektleiter Rühli dämpft die Freude aber schon im nächsten Satz. Bei genauem Hinschauen zeige sich, dass die wahre Autonomie in der Praxis deutlich kleiner sei als in der Theorie. Tatsächlich fänden sich angesichts immer komplexerer Aufgaben und Vorschriften viele Gemeinden in der Rolle von Vollzugsorganen wieder. Kompetenzen würden zunehmend zu den Kantonen verlagert, Minigemeinden könnten viele ihrer Aufgaben gar nicht autonom erfüllen, sagt Rühli. Um die Gemeinden wieder zu stärken, setzt er vorab auf Fusionen. Dass damit die Bürgernähe verloren geht, wie Kritiker monieren, lässt Rühli nicht gelten. Zum einen führe die steigende Mobilität der Bevölkerung ohnehin zu einer Diskrepanz zwischen den Arbeits- und den Wohnorten. «Die Bindung an das Gemeinwesen wird entsprechend geschwächt, das Milizsystem stösst an seine Grenzen.» Schon heute sei es vielerorts schwierig, Ämter zu besetzen. Zum anderen hätten viele Gemeinden Aufgaben in gemeinsamen Gremien zentralisiert. Das schwäche die Gemeindeautonomie weiter und schränke zudem die direktdemokratische Mitwirkung ein.
Heimlicher Sieger Glarus
Die bisher geringe Fusionslust der Schweizer Gemeinden erklärt Rühli mit Fehlanreizen im System. Die durchschnittliche Schweizer Gemeinde hat 1200 Einwohner und ist häufig nur dank der Mittel aus dem interkommunalen Finanzausgleich in der Lage, ihre Aufgaben zu finanzieren. Als Extrembeispiel nennt Rühli Riemenstalden, die kleinste Schwyzer Gemeinde. Sie generiert pro Kopf Steuereinnahmen von 500 Franken, kommt dank Ausgleichszahlungen aber auf 11 000 Franken. Da die meisten Kleingemeinden Empfängergemeinden seien, widersetzten sie sich naturgemäss jeder Abschwächung des Systems, sagt Rühli. Er stellt zudem einen Mangel an Transparenz in der Rechnungslegung fest, der Vergleiche unter den Gemeinden erschwere.
«Es kann nicht die einzige Aufgabe einer Gemeinde sein, Heimatgefühl zu vermitteln», sagt Rühli. Er appelliert darum an die Kantone, sich stärker für Fusionen zu engagieren. Bei der Glarner Regierungsrätin Marianne Dürst rennt Rühli damit offene Türen ein. Glarus gilt als Paradebeispiel für Fusionen und ist darum der «heimliche Sieger» der Studie: Dass es nur einen Mittelfeldplatz einnimmt, liegt daran, dass es nach seiner radikalen Reform in zwei Punkten aus dem Bewertungsraster fällt. Heute ist Glarus in drei Gemeinden mit je 10 000, 12 000 und 16 000 Einwohnern gegliedert. Keine sei mehr auf den Ressourcenausgleich angewiesen, jede habe wieder vollen finanziellen und politischen Spielraum, sagte die Glarner Volkswirtschaftsdirektorin Marianne Dürst an der Präsentation der Studie in Bern. «Das ist ein grosser Demokratiegewinn.»
Appenzell nimmt’s gelassen
In Glarus war die Reform unausweichlich angesichts der finanziellen Notlage des Kantons. «Wenn zwei Drittel der Gemeinden auf Ausgleichszahlungen angewiesen sind, die Zahl der Einwohner und der Schüler zurückgeht und sich die Kantonsschulden türmen, ist der Handlungsbedarf akut.» Mit solchen Sorgen ist der kleine Kanton Appenzell Innerrhoden nicht geplagt. Dass er auf dem Ranking von Avenir Suisse auf den hintersten Rängen liegt, plagt dessen regierenden Landammann Daniel Fässler darum «in keiner Art und Weise», wie er gutgelaunt feststellte. Fässler sieht seinen Kanton, der in vielem ein Sonderfall sei, vielmehr als Beweis dafür, dass sich die Schweiz auch in der Frage der Gemeindeautonomie nicht über einen Leisten schlagen lässt. In Innerrhoden funktioniert das Milizsystem in den sechs Bezirken, wie die Gemeinden hier heissen, laut Fässler tadellos. Jedes Exekutivmitglied erledigt seine Arbeit selber in einem Teilzeitamt: Eine Verwaltung kennt Innerrhoden nicht.
Ein engagiertes Plädoyer für das Milizsystem hält auch der Direktor des Schweizer Gemeindeverbands, Ulrich König. Ihm sind die von Avenir Suisse propagierten strukturellen Veränderungen zu einseitig. Lieber wäre ihm die Stärkung der Gemeindeautonomie durch die bessere Vermittlung von Kompetenzen in Gemeindeführung. Dies werde in der Berufsbildung vernachlässigt.
Dieser Artikel erschien im «St. Galler Tagblatt» vom 2. April 2012.