Die Klage über den Fachkräftemangel in Deutschland ist voreilig. Viel wichtiger wäre es, das vorhandene Arbeitskräftepotenzial besser auszuschöpfen. Wie das geht, zeigt die Schweiz

Der deutsche Arbeitsmarkt ist auf Erfolgskurs: die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 18 Jahren, die höchste Zahl von Erwerbstätigen seit der Wiedervereinigung, die ersten Reallohnsteigerungen seit langer Zeit. Aber kaum ist das Schreckgespenst der Massenarbeitslosigkeit gebannt, geht die Angst vor dem Arbeitskräftemangel um. Es werden bereits groß angelegte Einwanderungsprogramme gefordert. Stattdessen sollte man zunächst einmal brachliegende Reserven im Inland mobilisieren.

Das ungenutzte Arbeitskräftereservoir ist noch immer gewaltig: Teilt man das Arbeitsvolumen durch die Gesamtbevölkerung, so arbeitet der durchschnittliche Deutsche 2009 laut OECD 684 Stunden im Jahr, der durchschnittliche Schweizer hingegen 963 Stunden. Dieser um 41 Prozent höhere Arbeitskrafteinsatz ist Ergebnis vieler Faktoren: Die Eidgenossen haben eine geringere Arbeitslosigkeit, höhere Erwerbsquoten bei Frauen und Älteren, ein höheres Renteneintrittsalter, kürzere Ausbildungszeiten, weniger unfreiwillige Teilzeit, längere Wochenarbeitszeiten und weniger Jahresurlaub. Anders herum: In Deutschland arbeiten zu wenige Menschen, und sie arbeiten nicht lange genug.

Deutschland hat noch immer eine mehr als doppelt so hohe Arbeitslosenquote wie die Schweiz sowie deutlich geringere Erwerbsquoten bei Frauen (65 Prozent versus 74 Prozent) und bei älteren Personen (56 Prozent versus 68 Prozent). Das Eintrittsalter in die Berufsbildung – und somit ins Arbeitsleben – ist in Deutschland vier Jahre höher als in der Schweiz (20,5 statt 16,5 Jahre). In der Summe ergibt sich eine Erwerbsquote, die fast ein Zehntel niedriger ist, nämlich 70 statt der schweizerischen 79 Prozent. Hätte Deutschland eine Quote so hoch wie das Nachbarland, wären 2009 nicht 40,3, sondern 45,3 Millionen Personen erwerbstätig gewesen. Das heißt, es stünden fünf Millionen Personen zusätzlich in Lohn und Brot. Um dieses Potenzial zu heben, bedarf es mehr als klassischer Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Die Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen ließe sich etwa durch bessere Kinderbetreuung und eine Reform des Ehegattensplittings steigern. Das Eintrittsalter ins Berufsleben wird in den nächsten Jahren durch die Einführung des Abiturs nach zwölf Jahren, eine Verkürzung der Studiendauer infolge der Bologna-Reform, die bessere Verfügbarkeit von Ausbildungsplätzen und die Aussetzung der Wehrpflicht reduziert. Die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf 67 und die Beseitigung von Anreizen zur Frühverrentung werden die Erwerbsquote bei Älteren sukzessive erhöhen.

Aber auch bei der Zahl der gearbeiteten Stunden pro Erwerbstätigen gibt es Reserven. Deutschland hat überdurchschnittlich viele Urlaubs- und Feiertage sowie kurze Wochenarbeitszeiten. Außerdem gibt es viele Teilzeitbeschäftigte, die gern mehr arbeiten würden. Aufgrund dieser Faktoren arbeitet der Schweizer mit 1640 Stunden im Jahr im Schnitt etwa 15 Prozent mehr als der durchschnittliche deutsche Arbeitnehmer mit 1430 Stunden. Würden also die deutschen Erwerbstätigen (40,3 plus fünf Millionen) so viel arbeiten wie ihre Schweizer Kollegen, entspräche dies einem zusätzlichen Arbeitsvolumen von weiteren 6,7 Millionen Erwerbstätigen. In der Summe ergibt der Ländervergleich eine erstaunliche Zahl: Könnte man die deutsche Erwerbsquote auf Schweizer Niveau anheben (plus fünf Millionen Personen) und die Arbeitszeit ebenfalls (plus 6,7 Millionen), brächte dies ein zusätzliches Arbeitsvolumen, das knapp zwölf Millionen Arbeitskräften entspräche.

Dies ist zwar nur eine Überschlagsrechnung, aber sie verdeutlicht die Größenordnung, um die es geht. Viele Probleme, die Deutschland plagen, sind im Kern auf die dramatische Unterbeschäftigung zurückzuführen: Massenarbeitslosigkeit, hohe Abgaben- und Steuerlast, stagnierende Reallöhne, geringe Konsumnachfrage und marode Staatshaushalte.

Die geringe Beschäftigungsquote in Deutschland ist einerseits eine geschichtliche Altlast und andererseits Folge einer verfehlten Wirtschaftspolitik. Durch die Wiedervereinigung wurden 17 Millionen Ostdeutsche mit einem völlig abgeschriebenen Kapitalstock und mit technisch obsoletem Humankapital Teil des gesamtdeutschen Arbeitsmarkts. Selbst nach zwei Jahrzehnten ist dieses zusätzliche Arbeitskräftereservoir noch nicht voll absorbiert. Die Zunahme der Unterbeschäftigung in Deutschland war aber auch eine Folge rigider Arbeitsmärkte, negativer Arbeitsanreize durch hohe Lohnnebenkosten, des Trends zu kürzeren Wochenarbeitszeiten sowie eines zum bürokratischen Moloch erstarrten Bundesamts für Arbeit.

Somit bietet das aktuelle Jobwunder auch die Chance, viele dieser Probleme zu lösen und die positive Rückkopplung zwischen Beschäftigungsaufbauund Wirtschaftswachstum zu verstetigen. Seit ihremHöhepunkt ist die Arbeitslosigkeit um zwei Millionen geschrumpft, und erstmals gibt es wieder Chancen auf Vollbeschäftigung. Dies verdanken wir derReform der Sozialsysteme (Agenda 2010), dem Umbau der Bundesagentur für Arbeit, der Einführung flexibler Beschäftigungsmodelle, Jahren der Lohnzurückhaltung und einer erfolgreichen Positionierung deutscher Firmen im globalen Wettbewerb.Wenn es in den kommenden Jahren gelingt, das brachliegende Arbeitskräftereservoir zu mobilisieren, wäre eine Steigerung des Wohlstands möglich.

Unter den OECD-Ländern ist die Schweiz in puncto Arbeitskräftemobilisierung sicherlich ein Ausreißer nach oben, aber sie zeigt, was grundsätzlich möglich ist. Ihr wirtschaftlicher Erfolg und ihr Wohlstand fußen in hohem Maße auf Rahmenbedingungen, die die Erwerbstätigkeit fördern. Dazu zählenflexible Arbeitsmärkte, niedrige Steuern, schlanke Sozialsysteme, ein gutes Bildungssystem und diegute alte Tugend Fleiß. Der Werbespruch für das Schweizer Kakaopulver Ovomaltine gilt so gesehen auch auf volkswirtschaftlicher Ebene: «Mit Ovo kannst du’s nicht besser, aber länger.»

Dieser Artikel erschien in der Financial Times Deutschland am 16. Februar 2011.