Christian Mundt: Herr Schwarz, am Montag stellte Avenir Suisse die neueste Studie mit dem Titel «Multis – Zerrbild und Wirklichkeit» vor (siehe BaZ von gestern). Was ist die Wirklichkeit der Multis?

Gerhard Schwarz: Die Wirklichkeit ist, dass diese Unternehmen für unser Land, unseren Wohlstand, aber auch für unseren Platz in der Welt eine ganz wichtige Rolle spielen. Dies gerät im Moment vor lauter – teilweise auch berechtigter – Kritik in den Hintergrund.

Die Aussage überrascht. Immer wieder wird gesagt, das Rückgrat der Wirtschaft seien die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), bei denen rund zwei Drittel aller Arbeitskräfte in der Schweiz beschäftigt sind.

Wir haben dies aufgenommen. Es zeigt sich: Rund ein Drittel der Bruttowertschöpfung entfällt auf staatliche oder staatsnahe Betriebe wie SBB, Post, Spitäler oder den Bildungssektor. Die multinationalen Unternehmen machen ebenfalls rund einen Drittel aus. In dieser etwas groben Optik machen die kleinen und mittleren Betriebe dann noch das verbleibende Drittel aus.

KMU sind also nicht wichtiger als die internationalen Multis?

Sie machen jedenfalls von der Wertschöpfung her nicht viel mehr aus als die Multis. Und sie sind zu einem grossen Teil auch von diesen abhängig. Hätten wir die internationalen Grosskonzerne nicht mehr in der Schweiz, gäbe es auch deutlich weniger Nachfrage für die KMU. Davon sind alle Bereiche betroffen: Bau, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen.

Wird also die Bedeutung der Multis unterschätzt?

Es herrscht hier eine merkwürdige Ambivalenz: Einerseits überschätzt man ihre Macht, wenn man glaubt, die Politik könne nichts gegen sie ausrichten und werde von ihnen diktiert. Anderseits vergisst man gerne, welche Schlüsselrolle sie für Wirtschaft und Wohlstand spielen.

Wie erklären Sie sich das?

Als Konsument hat man häufiger mit kleineren oder mittleren Betrieben zu tun. Darum nimmt man Multis weniger wahr. Wenn man in der lokalen Apotheke ein Medikament kauft, also bei einem KMU, prägen sich Bedienung und Betreuung wohl mehr ein als die Tatsache, dass das Medikament von Novartis stammt und damit hierzulande Beschäftigung, Wertschöpfung, Einkommen und Steuern generiert wurden. Dazu kommt, dass Multis naturgemäss nur einen kleinen Teil ihres Umsatzes in der Schweiz machen, also nie mit ihrer ganzen Grösse und Bedeutung präsent sind.

Die grössten Firmen nach Umsatz sind Rohstoffhändler. Unternehmen also, die man in der Öffentlichkeit kaum oder gar nicht wahrnimmt, aber auch Unternehmen, die immer wieder unter politischem Druck stehen.

Es stimmt, dass diese Firmen gerne an den Pranger gestellt werden. Auch hier ist die historische Perspektive wichtig: Die Schweiz hat eine lange Tradition im Rohstoffhandel. Früher waren es landwirtschaftliche Produkte oder Kolonialgüter. Der Rohstoffhandel ist hierzulande also kein Phänomen der letzten Jahre. Der Erdölhandel führt einfach aufgrund der Mengen und Preise zu einer «Aufblähung» der Umsätze.

Aber gerade diese Rohstofffirmen würden ein politisches Risiko darstellen, warnen Hilfsorganisationen.

Grosse Firmen in einem kleinen Land sind immer ein grösseres Risiko als grosse Firmen in einem grossen Land. In der Schweiz haben wir weltweit die meisten Grossunternehmen (im Fortune 500) pro Kopf, mehr als doppelt so viele wie die Niederlande, die auf Platz zwei folgen. Und: Welches grosse Unternehmen bietet kein Reputationsrisiko? Einmal sind es die Banken, dann ist es die Pharmaindustrie, dann wieder die Maschinenoder die Nahrungsmittelindustrie. Man kann nicht Wohlstand und Wirtschaft haben und gleichzeitig in einer Idylle leben. Beides geht nicht.

In der Studie warnen Sie davor, Firmen könnten auswandern, wenn die Bedingungen nicht mehr stimmen. Damit wurde vor der Abzocker-Abstimmung gedroht. Bisher eine leere Drohung.

Wir drohen nicht, und wir können auch gar nicht drohen. Wir sind kein Interessenverband, sondern ein Thinktank. Wir möchten auch dem Souverän nicht in seine Entscheidungen hineinreden.

Dennoch warnen Sie …

Genau. Es geht darum, dass sich grosse Unternehmen immer überlegen, wo der beste Standort für sie ist. Wird ein Standort im Vergleich zu anderen schlechter, wird das Auswirkungen haben. Kaum von heute auf morgen. Aber die Firmen überlegen, wo sie Arbeitsplätze auf- oder abbauen und wo sie investieren.

Was heisst jetzt das für die Politik in der Schweiz? Müssen wir uns nach den Multis ausrichten?

Nein. Die Abstimmung über die Minder-Initiative hat ja gezeigt, dass der Bürger gelegentlich auch ganz explizit gegen die Empfehlungen der Unternehmen stimmt. Aber das hat natürlich irgendwann Konsequenzen. Man ist frei zu entscheiden. Aber jeder Entscheid hat seinen Preis. Das gilt auch für politische Entscheide. Das muss der Souverän berücksichtigen. Er kann aber auch sagen, dass für ihn Wohlstand nicht so wichtig ist. Korrekturen solcher Entscheide können aber schmerzhaft und teuer sein.

Dieses Interview erschien in der «Basler Zeitung» vom 26. Juni 2013.
Mit freundlicher Genehmigung der «Basler Zeitung».