Eine Besonderheit der Schweiz und insbesondere ihrer Eliten ist die ausgeprägte Netzwerkbildung. In den meisten Fachgebieten gibt es eine überschaubare Zahl von Experten, die sich persönlich gut kennen. Für viele Themen gibt es zentrale Diskussionsforen. In kleinräumigen Branchenclustern wie der pharmazeutischen Industrie in Basel oder dem Finanzmarkt in Zürich sind alle wichtigen Akteure miteinander vernetzt.
Ein wichtiges Instrument der Netzwerkbildung, das besonders Ausländer immer wieder fasziniert, ist die Schweizer Apérokultur. Es gibt kaum eine Veranstaltung oder ein Geschäftstreffen, das nicht mit einem Apéro, «Apéro Riche», «Apéro Prolongé» oder Nachtessen endet. Alleine schon die Existenz einer entsprechenden Terminologie zeugt von der Bedeutung des Apéros als soziale Institution.
Die Apérokultur lebt vom Spannungsverhältnis zwischen professioneller und persönlicher Interaktion. Der Apéro dient meist als geselliger Abschluss professioneller Zusammenkünfte wie Fachtagungen, Verbandstreffen oder Geschäftsanlässen. Visitenkarten werden ausgetauscht, das Duzis wird angeboten, gutes Essen und Alkohol lösen die Zunge. Die gemeinsame Entspannung nach verrichteter Arbeit schafft persönliche Verbundenheit.
In modernen Wissensgesellschaften sind Netzwerke oft eine deutlich effizientere Organisationsform als Hierarchien oder starre Institutionen. Persönliche Netzwerke erlauben einen raschen Informationsaustausch, schnelle Entscheidungen, den effektiven Ausgleich von Interessen und eine flexible Anpassung der Strukturen an veränderte Bedingungen. Es gibt Indizien dafür, dass Länder mit bis zu zehn Millionen Einwohnern effizient über Netzwerke gesteuert werden können, während grosse Staatsgebilde auf anonymere und bürokratischere Institutionen angewiesen sind. Dies ist vermutlich auch einer der Gründe, warum kleine Nationen wie die Schweiz oder die skandinavischen Länder im globalen Wettbewerb oft agiler sind als grosse Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Italien.
Informelle Strukturen haben aber auch ihre Schattenseiten. Informationsflüsse und Entscheidungsprozesse, die über Netzwerke gesteuert werden, können auch zu Verkrustungen, Verfilzungen und Zugangsbarrieren für Aussenstehende führen. Damit die positiven Effekte überwiegen, bedarf es einer gewissen Transparenz, und der Zugang zu Netzwerken muss sich nach der Kompetenz richten («Meritokratie»). Grundsätzlich scheinen diese Voraussetzungen in der Schweiz wesentlich eher gegeben als in anderen Ländern wie Griechenland oder Österreich zwei Staaten, in denen eher die negativen Effekte der Netzwerkbildung zu beobachten sind. Die Offenheit des Schweizer Systems zeigt sich beispielsweise an dem sehr hohen Anteil von Ausländern in Schlüsselpositionen wie Manager oder Professoren.
Somit trägt die entwickelte Apérokultur der Schweiz zur effizienten Netzwerkbildung bei. Sie stärkt nicht nur den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern ist auch ein Standortfaktor für eine moderne, global vernetzte Wissensgesellschaft. Sowohl aus betriebswirtschaftlicher wie auch aus volkswirtschaftlicher Sicht ist also so mancher Apéro eine gute Investition. Prost!
Dieser Artikel erschien am 12. September 2013 in der Zeitschrift «Cigar».
Er ist eine leicht überarbeitete Version eines Textes aus dem Avenir-Suisse-Buch «Die Neue Zuwanderung».