Der Landbote: Die Rezession wird laut den neusten Prognosen 2012 nicht stattfinden. Mit anderen Worten, das Erfolgsmodell Schweiz funktioniert nach wie vor. Es braucht also gar keinen Thinktank, der neue Ideen entwickelt.

Gerhard Schwarz: Ich bin nicht so überzeugt von diesen Prognosen. Und auch ein bescheidenes Wachstum im laufenden Jahr wäre ein schwacher Trost. Denn wir stecken in einer tiefen Strukturkrise, die noch lange dauern wird. Wir haben also noch ganz viele Aufgaben anzupacken. Und als ressourcenarmes Land müssen wir stets besser sein als die anderen. Nur so können wir unseren Wohlstand behalten. Da will Avenir Suisse mithelfen.

Werden wir konkret: In welchen Bereichen hapert es besonders?

Ein Hauptproblem sind die Sozialversicherungen. Die Mischung von steigender Lebenserwartung, tiefen Zinsen und der abnehmenden Bereitschaft der Leute, ein Leben lang zu arbeiten, muss zu Veränderungen führen. Leider hat der Souverän vor zwei Jahren bei der Senkung des Umwandlungssatzes falsch entschieden. Er ignorierte die volkswirtschaftlichen Realitäten.

Was ist Ihr Gegenrezept?

Wir schlagen eine Schuldenbremse vor. Demnach könnten Anpassungen automatisch ausgelöst werden, wenn bestimmte Schwellenwerte überschritten werden – auf der Prämien- und auf der Leistungsseite. Eine andere – sanftere – Variante wäre, dass der Bundesrat handeln müsste, wenn Schwellenwerte überschritten werden. Und unabhängig davon, welche Variante man nun wählt, gilt, dass das Rentenalter 65 unsinnig ist. Man hätte es längst der gestiegenen Lebenserwartung anpassen sollen.

Solche Vorstösse sind aber nicht mehrheitsfähig.

Das ist leider so. Das Thema ist tabuisiert. Vielleicht wäre es deshalb sinnvoller, eine Untergrenze des Rentenalters einzuführen. Wer mit 60 pensioniert werden möchte, dürfte dies – müsste aber mit den finanziellen Konsequenzen leben. Wer bis 68 arbeiten will, dürfte dies auch – und hätte danach eine höhere Rente. Ich gebe zu, auch dies ist im Moment nicht realistisch. Die Aufgabe von Avenir Suisse ist es aber, langfristig zu denken.

Manchmal ist der Thinktank aber auch kurzfristig tätig. Sie befürworteten zum Beispiel die Frankenuntergrenze gegenüber dem Euro.

Ja, und das war für mich nicht einfach. Schliesslich habe ich als Journalist der «NZZ» jahrzehntelang gegen Wechselkursinterventionen angeschrieben. Manchmal muss man aber das kleinere Übel wählen – zum Beispiel, wenn Arbeitsplätze wegen des Wechselkurses dauerhaft verloren gehen. Ich bin kein Utopist. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass die Untergrenze auf 1.25 angehoben wird. Wir haben übrigens Monate vor dem Entscheid der Nationalbank eine Untergrenze als letzten Ausweg angedacht.

Sie nennen sich einen Liberalen und sorgen sich in Aufsätzen um den Liberalismus. Wieso eigentlich? Es gibt Grünliberale, Sozialliberale …

Gemäss einer Wischiwaschi-Deinition können natürlich alle liberal sein. Doch das bringt nichts. Der Liberalismus, wie ich ihn verstehe, steht im Gegenwind. Dieser stellt die Selbstverantwortung des Individuums, das Privateigentum, den Wettbewerb stark ins Zentrum. Viele Leute haben das Gefühl, die Krise sei durch diesen Liberalismus verursacht worden – was nicht stimmt.

Sondern?

Die Krise entstand nicht, weil zu liberale Rahmenbedingungen herrschten. Es galten vielmehr zu viele falsche Regeln. Mich beschäftigt, dass wir nun zu Überregulierungen neigen. Zum Beispiel im Finanzbereich: Wenn wir allzu komplizierte Regulierungen schaffen, erschwert dies bloss die Überwachung.

Es schadet der liberalen FDP, dass der Liberalismus im Gegenwind steht.

Das stimmt. Ich denke, dass vielleicht 15 Prozent der Bevölkerung hinter einem Liberalismus stehen, wie er mir vorschwebt.

Ist die FDP auf ihre wahre Basis geschrumpft?

Die FDP konnte früher nur einen Wähleranteil von gegen 30 Prozent haben, weil sie nicht konsequent liberal war. Ich sagte aber schon damals, dass die FDP mit diesem Konzept einer Volkspartei scheitern würde – weil zu viel Verschiedenes unter dem Begriff des Liberalismus versammelt wurde.

Der designierte FDP-Präsident Philipp Müller will aus der Partei wieder eine Volkspartei machen.

Der designierte Präsident hat sich bisher nicht durch einen klaren weltanschaulichen Kompass ausgezeichnet. Hingegen hat er sich durch ein ausgeprägtes Gespür für das Volksempfinden ausgezeichnet, mit seinen Aussagen zur Ausländerpolitik ebenso wie mit seiner Kritik an den Banken. Das sind alles Dinge, die einen gewissen Applaus bringen. Die Frage ist, aus welchen Ecken man den Applaus haben will. Generell ist es ja auch ein Armutszeugnis für die FDP, dass nur eine Person fürs Präsidium kandidiert.

Gibt es in Ihrem Liberalismus auch Platz für ökologische Gedanken?

Das mag jetzt missverständlich klingen: Aber eigentlich war ich ein früher Grünliberaler. Meine erste Artikelserie bei der «NZZ» trug den Titel «Wirtschaft jenseits der Umweltzerstörung». Das war vor 30 Jahren. Die ökologische Dimension halte ich für ganz wichtig. Aber man muss aufpassen, dass man nicht fundamentalistisch argumentiert mit der Zukunft. Niemand kann die Interessen der überübernächsten Generation vertreten – weil man nicht weiss, wie die Welt dann aussehen wird. Die Vorstellung, wir müssten die Welt so weitergeben, wie wir sie angetroffen haben, ist völlig fortschrittsfeindlich. Hätten unsere Vor-Vorfahren auch so gedacht, würden wir noch immer in Höhlen leben! Wir müssen marktwirtschaftliche Instrumente für den Umgang mit Ressourcenknappheit und Umweltverschmutzung finden.

Seit anderthalb Jahren sind Sie Direktor des Thinktanks Avenir Suisse. Wie «denkt» ein Thinktank?

Eine schwierige Frage! Wir haben viele kreative und spannende Mitarbeiter. Wir organisieren formelle Brainstorming- Sitzungen. Und Ideen entstehen und entwickeln sich natürlich auch in vielen informellen Diskussionen, in Kaffeepausen, beim Mittagessen. Dann verfassen wir Studien oder geben solche in Auftrag. Anschliessend kommt es zu einem äusserst intensiven Gegenleseprozess – intern und extern.

Wen wollen Sie beeinlussen?

Üblicherweise bedienen Thinktanks Parlamentarier mit Argumentationsmaterial. In der Schweiz mit ihrer direkten Demokratie ist das etwas anders. Wichtiger als Legislative und Exekutive ist der Souverän. Deswegen publizieren wir in den Zeitungen, geben Interviews am Radio, haben eine zunehmend genutzte Website – und es gibt keinen Arbeitstag, an dem nicht ein Avenir-Suisse-Mitarbeiter irgendwo in der Schweiz einen Vortrag hält.

Finanziert wird Avenir Suisse vor allem von Firmen. Nehmen diese Einluss?

Meine Unabhängigkeit war mir schon als Journalist wichtig, und sie ist es heute nicht minder. Ich bin deshalb nicht dabei, wenn Geld gesammelt wird. Ich habe seit meinem Amtsantritt auch nie sanften oder weniger sanften Druck gespürt, ein Thema zu bearbeiten oder es beiseitezulassen. Es gab in der Geschichte von Avenir Suisse nur selten Firmen, die ihre Fördergelder strichen, weil ihnen etwas nicht passte. Damit muss man leben, wenn man glaubwürdig bleiben will.

Täuscht der Eindruck, oder hat Ihr Vorgänger Thomas Held häufiger provoziert als Sie?

Haben Sie diesen Eindruck?

Er verärgerte die Bergkantone und die Bauern. Und er sorgte mit dem Vorschlag für Aufsehen, die Kinder schon mit 3 Jahren in die Schule zu schicken.

Ich bin kaum der weniger konsequente Liberale als Thomas Held. Aber wahrscheinlich habe ich weniger Lust an der Provokation. Mich interessieren die Themen, die wir behandeln. Ich will das Land in eine liberale Richtung vorwärtsbewegen.

Sie sind also mehr Journalist und Wissenschafter und weniger Verkäufer?

Ich debattiere sehr gerne. Ich bin aber nicht der Typ, der einmal einen Bengel in die Luft wirft und die Reaktionen abwartet. Nicht dass Thomas Held das getan hätte, aber er musste mehr auffallen als ich. Er musste Avenir Suisse nach der Gründung bekannt machen.

Haben Sie auch andere Ansichten als Ihr Vorgänger?

Vielleicht in der Frage der Institutionen, beispielsweise in Sachen Föderalismus. Lassen Sie mich das so umschreiben: Zwei Ökonomen spazieren durch einen Schrebergarten. Der eine sagt: «Das ist aber eine ineffiziente Art der Gemüseproduktion.» Der andere, etwas philosophisch Angehauchte, entgegnet: «Aber es ist eine äusserst effiziente Art der Glücksproduktion.» Mit unseren politischen Institutionen ist es ähnlich. Sie mögen oft ineffizient sein, aber sie führen zu einer stärkeren Identifikation der Bürger mit dem Staat, zu weniger Staatsverdrossenheit, zu mehr «Glück».

Ist Avenir Suisse nicht auch deshalb sachlicher geworden, weil die Schweizer Konsensdemokratie Mühe mit lauten Stimmen hat?

Das denke ich nicht. Denn ich würde mir für die Schweiz eine offenere Streitkultur wünschen. Das soll keine Absage an die schweizerische Konsensdemokratie sein. Vor einem Kompromiss wäre es aber manchmal gut, es würde mehr gestritten.

Dieses Interview erschien in «Der Landbote» vom 2. April 2012.