Ein zentrales Problem im öffentlichen Verkehr sind die grossen Nachfrageschwankungen und, damit einhergehend, eine ungleichmässige Kapazitätsauslastung. Während viele Bahnen, Busse und Trams im Berufsverkehr zwischen 7 und 9 und zwischen 17 und 19 Uhr überlastet sind, liegen während der Talzeiten enorme Kapazitäten brach (s. Abb. 11). Die durchschnittliche Sitzauslastung der SBB liegt bei nur 32 Prozent im Fern- und bei 20 Prozent im Regionalverkehr (SBB, 2013). Dies bedeutet: zwei Drittel bzw. vier Fünftel der Verkehrskapazität bleiben ungenutzt. Dabei wird der Steuerzahler für die ungleichmässige Aus- lastung gleich doppelt zur Kasse gebeten: Die niedrige Auslastung in den Talzeiten verursacht Verluste im Betrieb, und wegen der Staus in den Spitzenzeiten werden immer wieder milliarden- schwere Kapazitätserweiterungen vorgenommen, die nur 3 bis 4 Stunden am Tag gebraucht werden.
Nicht nur im Bahnverkehr besteht das Problem von Nachfrageschwankungen und dadurch bedingter ungleichmässiger Kapazitätsauslastung. Andere Branchen, die sich damit konfrontiert sehen, sind die Hotellerie und der Luftverkehr. Wenn man während der Hauptsaison ein Hotel bucht, zahlt man selbstverständlich einen viel höheren Preis als in der Nebensaison, und wenn man am Freitagabend ein Flugzeug besteigt, kostet dies in der Regel wesentlich mehr als am Dienstagmittag. Niemand nimmt Anstoss daran oder erwartet vom Staat, dass dieser aus Gründen der Fairness mit Subventionen die Preisunterschiede nivelliert.
Im Strassenverkehr macht eine preisliche Differenzierung nach Zeiten und Strecken relativ aufwendige Mautsysteme erforderlich. Im öV hingegen liessen sich solche Änderungen relativ leicht einführen, da man bereits heute für eine spezifische Strecke ein Billett löst. Erste Ansätze für eine zeitliche Staffelung der Billetttarife im öV finden sich denn auch heute schon. Beispielsweise gibt es eine Differenzierung bei Tageskarten, die im Zürcher Verkehrsverbund gelöst werden. Wer die Reise erst nach 9 Uhr morgens antritt, erhält mit einer «9-Uhr-Tageskarte» einen Rabatt von 15 Prozent. Eine andere zeitliche Differenzierung bietet das Gleis-7-Abo, mit dem Jugendliche unter 25 Jahren in Kombination mit einem Halbtax-Abo ab 19 Uhr in der 2. Klasse gratis fahren können.
Auch Ansätze einer streckenabhängigen Differenzierung gibt es. So beträgt der Preis für ein Retourbillett 2. Klasse mit der SBB zwischen Zürich und Chur 80 Franken, auf der etwa gleich langen, aber deutlich stärker frequentierten Strecke Zürich Bern hingegen loo Franken. Zudem gibt es diverse Fahrpreisvergünstigungen im Freizeitverkehr, zum Beispiel Kombiangebote mit Skipass und Hotelübernachtung. Im ÖV-Kerngeschäft jedoch sind die Tarife noch weitgehend uniform.
Grössere Preisdifferenzierung als Ziel
Das sinnvolle Prinzip der Preisdifferenzierung liesse sich pro- blemlos auf weitere Bereiche ausdehnen so auf das Generalabonnement (GA), eine in der Schweiz gut gehütete, aber leider wenig sinnvolle Institution. Das GA ist schlicht zu billig (5800 bzw. 3550 Franken) und setzt falsche Anreize. Das «Senioren-GA» für die 1. Klasse ist gar noch um 21 Prozent und jenes für die 2. Klasse um 24 Prozent billiger als das reguläre GA. Die Preisvergünstigung für Rentner sollte, wenn schon, zumindest an die Bedingung geknüpft werden, dass das Senioren-GA nicht zu Stosszeiten verwendet wird zumal Rentner zeitlich besonders flexibel sind. Noch sinnvoller wäre es freilich, das Senioren-GA ganz abzuschaffen und durch ein vergünstigtes «Talzeiten-GA» für all jene zu ersetzen, die dieses nur ausserhalb der Stosszeiten nutzen.
Grundsätzlich ist das GA ein verkehrspolitisches Auslaufmodell, denn als Flat Rate reduziert es die Kosten jeder zusätzlichen Fahrt auf null und schafft so einen Anreiz zum Überkonsum. Es gibt inzwischen über 400000 GA-Besitzer, doppelt so viele wie vor 20 Jahren. Ein Teil schätzt am GA vor allem den Komfort (kein Ticket zu lösen) und die Flexibilität (in jeden Zug einsteigen zu können). Vielfahrer hingegen profitieren vom Mengenrabatt. Sofern man gewisse Ermässigungen für Berufspendler als legitim betrachtet, wäre ein Pendlerabonnement für bestimmte Zonen und Strecken hierfür sicherlich das adäquatere Mittel.
Eine grundlegende Reform der Produktpalette und des Tarifsystems im Schweizer öV scheint dringend geboten. Aus Sicht des Mobility Pricing geht es dabei, erstens, um einen höheren Kostendeckungsgrad und, zweitens, um eine stärkere Ausdifferenzierung der Preise. Avenir Suisse schlägt vor, einen klaren Pfad zur Erhöhung der Eigenfinanzierungsquote im öV festzulegen, beispielsweise beim Schienenverkehr von 40 auf 50 Prozent bis 2020 und dann auf 60 Prozent bis 20302 Hierzu sollte, neben einer Tarifreform, auch das weitere Abschmelzen des Pendlerabzugs beitragen. Gegenüber heute würde dies auf eine deutliche Preiserhöhung hinauslaufen, aber selbst bei 60 Prozent würden noch immer zwei Fünftel der Kosten durch Steuern finanziert.
Dieser Artikel erschien in der Sonderbeilage «Der Preis ist der Weg» des «Schweizer Monat» (Oktoberausgabe). Mit freundlicher Genehmigung des Schweizer Monats.