«Liberal» hört sich gut an. Wer ist schon nicht gerne liberal. Entsprechend herrscht zu diesem Begriff eine breite Deutungsdebatte und fleissig wird darüber gestritten, wer denn nun der Liberalste unter den Liberalen ist. Dabei wird nicht mit Wortkombinationen gegeizt: grün-liberal, sozial-liberal, gesellschaftsliberal, wirtschaftsliberal, neo-liberal – die Liste der Bindestrich-Liberalismen ist lang. Der Begriff selbst verkommt dabei oft zum blossen Schlagwort. Avenir Jeunesse hat sich in Kooperation mit dem Fachverein für Politikwissenschaften der Universität Zürich zum Ziel gesetzt, ein wenig Licht in den Deutungsdschungel zu bringen. So erörterten am Dienstagabend im Rahmen einer Podiumsdiskussion Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft (siehe Teilnehmer unten) den Ursprung, die Gegenwärtigkeit und Zukunft des Liberalismus.

Krise oder Comeback des Liberalismus?

Ob die Operation Libero in der Schweiz, En Marche in Frankreich, die NEOS in Österreich oder der Wiedereinzug der FDP in den deutschen Bundestag; liberale Positionen sind wieder en vogue – «liberal zu sein» ist trendy. Während vermehrt Akteure jeglicher Couleur die liberale Gesinnung für sich beanspruchen, sehen andere in der freien Marktwirtschaft den Ursprung sozialer und wirtschaftlicher Ungerechtigkeiten. Und China entscheidet sich zwar für die Marktwirtschaft, schert sich jedoch kein bisschen um die übrigen Prinzipien einer liberalen Gesellschaft. Befindet sich der Liberalismus also in einer Krise oder erlebt er eine Renaissance?

Grundsätzlich beklagen wir uns in der Schweiz auf einem hohen Niveau, hielt Lukas Rühli in diesem Zusammenhang fest. So seien die zivilen Freiheiten hierzulande grösser als noch vor einigen Jahrzehnten. Als Beispiele nennt er die Einführung des Frauenstimmrechts, die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften (und wahrscheinlich bald Ehe) und die Diskussion über Drogenliberalisierung – weitere werden folgen. Bei der wirtschaftlichen Freiheit sei das Bild weniger eindeutig: Errungenschaften wie der Schaffung eines Binnenmarktes stehe eine zunehmende Regulierungsdichte für Unternehmen gegenüber.

In der Schweiz herrscht nach wie vor ein ausgeprägter Sinn für die individuelle Freiheit und Selbstverantwortung, welche die Basis einer liberalen Auffassung ausmachen. Von einer Krise sollte man folglich nicht sprechen, dennoch kommen mit der Digitalisierung oder dem Aufstreben von weitgehend totalitär regierten Staaten schwierige Zeiten auf den Liberalismus zu.

Prof. Dr. Francis Cheneval erwähnte im Zusammenhang mit der Digitalisierung eine wichtige Herausforderung: in einer digitalisierten Welt gibt es eine zunehmende Zahl von Netzwerkindustrien (Facebook, Google, Amazon), die aufgrund der Netzwerkvorteile, die sich für ihre User ergeben, zu natürlichen Monopolen tendieren. Daraus ergeben sich grosse Machtkonzentrationen, die vor allem darum heikel sind, weil Eigentum oft nicht mehr physisch gewährleistet ist, sondern zum blossen digitalen Konzept verkommt (z.B. Musikstreaming) und folglich von solchen Konzernen auch schnell entzogen werden könnte.

Liberalismus ohne Rationalität?

Innerhalb der Diskussionsrunde wurde die interessante Frage aufgeworfen, ob das Konzept des Liberalismus auch dann noch funktioniert, wenn man die neuesten neurowissenschaftlichen Erkenntnisse beherzigt, die die Rationalität des Menschen zunehmend im Kern anzweifeln. Lukas Rühli meinte dazu, ein Staat, der Menschen vor irrationalen Handlungen schützen wolle, erziehe diese umso mehr zu mentaler Unselbständigkeit.

Und wie kann sich der Liberalismus gegen irrationale Strömungen wie dem Populismus behaupten? Einerseits, da war man sich einig, durch Fakten und Nüchternheit. Andererseits aber genau auch dadurch, dass Ängste der Bevölkerung von links (z.B. Ungleichheit) bis rechts (z.B. Migration) nicht einfach als irrational und unbegründet abgetan, sondern ernstgenommen und diskutiert werden. Denn fühlen sich die Menschen damit alleingelassen, öffnet man den Populisten erst Tür und Tor, diese Ängste zu bewirtschaften.

Liberale Zukunftsvisionen für die Schweiz und Europa

Für die GLP-Gemeinderätin Corina Gredig steht in der Schweiz und weltweit vor allem das Streben nach Chancengleichheit heutiger, aber auch künftiger Generationen im Vordergrund. Diese gehe unvermeidlich mit einer effizienten, gerechten und nachhaltigen Ressourcennutzung einher. Die Anliegen der GLP seien darum durchaus kein Widerspruch zu einer liberalen Wirtschaftspolitik, sondern ganz im Gegenteil im Kern liberale Anliegen.

Für ein liberales Europa erachtet Lukas Rühli eine starke EU mit einer gemeinsamen Aussenpolitik als wesentlich. Weiter plädiert er für ein weniger zentralisiertes Europa, das mehr Raum für die föderalen Strukturen lässt und die Eigenheit einzelner Regionen respektiert. Hier bestehe aus liberaler Perspektive Handlungsbedarf.

Blieb zuletzt aber die eingangs erwähnte Frage übrig: Was bedeutet denn nun Liberalismus? Olivia Kühni hatte dazu eine spannende Antwort:
„Für mich bedeutet Liberalismus die Anerkennung von Ambivalenz. Ich sage das insbesondere als Journalistin, weil mir in der öffentlichen Debatte etwas auffällt, das ich gerne als Sehnsucht nach Reinheit bezeichne. Die Leute halten Ambivalenz nicht mehr aus. Es geht das Wissen verloren, dass nichts je absolut gut ist, das alles einen Preis hat, und das finde ich brandgefährlich. Das hat viel totalitäres Potenzial. Für mich bedeutet Liberalismus, immer wieder daran zu erinnern, dass die Welt grau ist und nicht schwarz/weiss. In der Grauzone wird es auch spannend, da muss man nämlich Entscheidungen treffen und Verantwortung tragen.“

Die Podiumsteilnehmer:
– Prof. Dr. Francis Cheneval (Professor für Politische Philosophie, Universität Zürich)
– Corina Gredig (GLP-Gemeinderätin Stadt Zürich und Leiterin des glp Lab)
– Olivia Kühni (Ressortleiterin Politik & Wirtschaft, Schweizer Monat)
– Lukas Rühli (Senior Fellow, Avenir Suisse)