Die Steuerlast der Haushalte wächst überproportional, wenn wir produktiver werden. Der Grund ist die warme Progression. Die ganze Gesellschaft rutscht mit steigendem Einkommen in höhere Steuertarifstufen. In einer neuen Analyse hat Avenir Suisse die Auswirkungen der warmen Progression nicht nur für den Bund, sondern erstmals auch auf kantonaler und kommunaler Ebene untersucht. Für neun Kantone wurden umfassende Auswertungen durchgeführt. Das Resultat: Allein das Reallohnwachstum von 2010 bis 2020 hat total zu einer warmen Progression von 2,5 Mrd. Franken geführt. 

Unsere Empfehlung: Ausgleich wie bei der kalten Progression

Was passiert ist, ist passiert. Niemand erwartet, dass Bund und Kantone die warme Progression nachträglich kompensieren. Doch es gilt zu verhindern, dass die Steuerquote bei künftigem Reallohnwachstum automatisch weiter steigt und steigt, ohne dass sich Bund oder Kantone dafür vor den Steuerzahlern rechtfertigen müssen. Deshalb sollte die warme Progression ab sofort ausgeglichen werden. Das wäre methodisch denkbar einfach:

Um die kalte Progression zu kompensieren, werden die Steuertariftabellen regelmässig an den Landesindex der Konsumentenpreise angepasst. Dazu werden die Einkommensgrenzen der Steuertarife um die Inflationsrate erhöht. Um auch die warme Progression korrekt zu kompensieren, müsste dies neu einfach auf Basis der Entwicklung des Nominallohnindex getan werden (denn der Nominallohnzuwachs setzt sich aus Reallohnzuwachs und Inflation zusammen).

Die drei Zahlen, die Sie kennen müssen
2517 Mio. Fr. 800 Mio. Fr. 1717 Mio. Fr.
Das ist er Effekt der warmen Progression kumuliert für alle drei Staatsebenen – nach nur zehn Jahren Reallohnwachstum. Grund: Wegen dieses Reallohnwachstums (8,43%) steigt die Steuerbelastung durch Bund, Kantone und Gemeinden nicht etwa auch um 8,43%, sondern um 13,26%. Alles über 8,43% ist warme Progression.So hoch ist der Effekt der warmen Progression auf Bundesebene. 2020 lag die Belastung der Haushalte durch die direkte Bundessteuer bei 12,1 Mrd. Franken. Ohne warme Progression hätte sie bei 11,3 Mrd. Fr. gelegen.So hoch ist der Effekt der warmen Progression auf Ebene der 26 Kantone und ihrer Gemeinden. 2020 lag die Belastung der Haushalte durch die Einkommenssteuern von Kantonen und Gemeinden bei 47 Mrd. Franken. Ohne warme Progression hätte sie bei 45,3 Mrd. Fr. gelegen. Die Zahl basiert auf einer Hochrechnung der ausgewerteten Kantone.

Drei häufige Gegenargumente, die nicht stichhaltig sind

1. «Der Kanton hat den Steuerfuss gesenkt, ein Ausgleich der warmen Progression ist nicht nötig.»
Eine Steuerfusssenkung mag den Volumeneffekt ausgleichen. Doch die warme Progression beeinflusst nicht nur das Volumen, sondern auch die Verteilung der Steuerlast: Der Anteil, den der Mittelstand trägt, steigt; der Anteil der reichsten Haushalte sinkt. Grund: Die warme Progression wirkt weniger stark für Einkommen, die sich ohnehin schon in der höchsten Steuertarif-stufe befinden, als für Einkommen im Bereich schnell steigender Tarife. Eine Kompensation der warmen Progression durch Steuerfusssenkung führt also zu einer geringeren Umverteilung.

2. «Der Kanton hat steuerliche Abzüge erhöht, ein Ausgleich der warmen Progression ist nicht nötig.»
Von Abzügen profitiert eine spezifische Klientel (z.B. Eltern, Pendler, Selbständige), deren Wohlwollen sich die Politik damit sichert. Wird der Volumeneffekt über die Erhöhung von Abzügen ausgeglichen, nimmt zwar die Umverteilungswirkung des Steuersystems zu, aber nur zugunsten der von den Abzügen profitierenden Bevölkerungsgruppen. Insgesamt wird damit das Steuersystem intransparenter und verzerrender.

3. «Per Verfassung gilt die Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Beim Reallohnwachstumsteigt diese. Also ist der Effekt der warmen Progression gerechtfertigt.»
Mit «wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit» wird auf die Unterschiede der Individuen gezielt. Es geht also um interpersonelle Steuergerechtigkeit und nicht darum, den Staat bei einer produktiveren Bevölkerung überproportional zu bevorteilen. Das Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit ist legitim. Damit war aber niemals gedacht, dass die Steuereinnahmen automatisch stärker steigen als der allgemeine Wohlstand.

Unser Fazit

Das Reallohnwachstum hat innert bloss zehn Jahren zu einer warmen Progression von 2,5 Mrd. Fr. geführt. Von dieser Steuerlast trägt der Mittelstand einen grösseren Anteil als früher. Nur ein methodisch korrekter Ausgleich der warmen Progression – analog zur kalten Progression – verhindert in Zukunft solche demokratisch schlecht legitimierte Volumen- und Verteilungseffekte.

Zu den Factsheets mit den Auswertungen