Ein Automatismus, der dem Staat einen laufend wachsenden Anteil unseres Einkommens garantiert: Das muss eine absurde Forderung sein, glücklicherweise ohne Chancen auf politische Mehrheiten, oder? – Leider nein. Ganz im Gegenteil: Es ist längst Realität. Und niemanden scheint es zu kümmern.
Steigen unsere Nominallöhne, so werden diese zu höheren Tarifen besteuert. Der inflationsbedingte Teil dieses Anstiegs, die kalte Progression, wird jährlich kompensiert, indem die Tarifstufen in den Steuertabellen entsprechend angepasst werden. Steigt aber die Kaufkraft unserer Löhne als Folge eines allgemeinen Produktivitätswachstums, dann wird der Aufstieg in den Steuertabellen nicht kompensiert. Das ist die warme Progression. Ein Haushalt, der z.B. unverändert in der Mitte der Einkommensverteilung liegt, muss im Lauf der Jahre einen immer grösseren Anteil seines Einkommens in Form von Steuern dem Staat abliefern.
Effekte der warmen Progression
Die warme Progression betrifft alle: Bei einem progressiven Steuersystem steigen die Durchschnittssteuersätze aller Steuerzahler kontinuierlich, sofern die Wirtschaft ein Reallohnwachstum erzielt. In der Folge steigen die Staatseinnahmen überproportional zur landesweiten Wertschöpfung. Produktivitätswachstum bzw. das dadurch erzielte Reallohnwachstum führt also über die warme Progression zu einem schleichenden Anstieg der Fiskal- und damit auch der Staatsquote.
Die warme Progression hat – ironischerweise – eine degressive Wirkung: Sie reduziert die Umverteilung von Reich zu Arm. Das liegt daran, dass der Grossteil der Progressionswirkung des schweizerischen Steuersystems nicht bei den extrem hohen Einkommen stattfindet, sondern bei mittelhohen. Weil durch die warme Progression ein grösserer Anteil der Haushalte in der höchsten Steuertarifstufe zu liegen kommt, sinkt der Anteil, den die ganz reichen Haushalte – also die obersten wenigen Prozent – an das gesamte Steuervolumen beitragen. In Zahlen: Unter den Verheirateten hat der allgemeine Reallohnanstieg der letzten zehn Jahre dazu geführt, dass die einkommensstärksten 5 Prozent der Haushalte 2019 «nur» noch 60,6% des auf Bundesebene anfallenden Steuervolumens berappten, während es zehn Jahre zuvor noch 63,3% waren.
Das genaue Ausmass der warmen Progression
Der Reallohnanstieg von 2010 bis 2020 um 8,4% hat dazu geführt, dass die Haushalte aufgrund der warmen Progression alleine an direkter Bundessteuer 800 Mio. Franken mehr bezahlen, als sie müssten, wenn ihre Steuerschuld ebenfalls «nur» proportional, also um 8,4%, gestiegen wäre. Ein Anstieg von 20% ab heute würde zu einer jährlichen steuerlichen Mehrbelastung von 2,4 Mrd. Franken führen. Und das ist nur die Bundesebene. Inklusive Kantons- und Gemeindesteuern – die zwar meist eine geringere Progression aufweisen, aber vom Volumen her das Vierfache der direkten Bundessteuern betragen – ist es noch viel mehr.
Diese Steuererhöhungen sind schlecht legitimiert. Die meisten Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sind sich ihrer nicht einmal bewusst, geschweige denn haben sie (oder auch nur das Parlament) jemals darüber abgestimmt.
Vorgehen zum Ausgleich der warmen Progression
Eine Korrektur wäre einfach: Um die kalte Progression zu kompensieren, werden die Steuertabellen jährlich an die Inflation, also an den Konsumentenpreisindex, angepasst. Um auch die warme Progression zu kompensieren, müssten die Steuertabellen stattdessen neu einfach an den Nominallohnindex angepasst werden. Der Staat würde bei einem solchen Ausgleich der warmen Progression keineswegs «kaputtgespart». Im Gegenteil: Er dürfte weiterhin wachsen. Die Steuereinnahmen würden mit der Rate des nominellen Einkommenswachstums zunehmen. Der Ausgleich würde einzig verhindern, dass sie überproportional zum Einkommenswachstum steigen. Sollte in Zukunft ein solches überproportionales Wachstum des Steuervolumens gewünscht sein, müsste dieses über eine Volksabstimmung legitimiert werden.