Fünf Massnahmen helfen dabei, die Volksinitiative verbindlicher zu gestalten, damit sie mit mehr Vorsicht und Bedacht eingesetzt wird und weiterhin ein Standortvorteil bleiben kann.
Der Wille zum Konsens hat in der Schweizer Politik seit 1990 deutlich abgenommen. Das färbt auf das Instrument der Volksinitiative ab. Sie wird immer öfter als Wahlkampfinstrument der grossen Parteien, aber auch als Werbemittel für Partikularinteressen eingesetzt, und sie steht im ständigen potenziellen Konflikt mit der Internationalisierung von Wirtschaft, Politik und Recht. Gerade im Ausland hat das die Wahrnehmung der Schweiz verändert: Sah man sie früher als (möglicherweise etwas langsamen) Hort der Stabilität, so rückte in den letzten Jahren ein Eindruck institutioneller Unsicherheit in den Vordergrund.
Steigendes Konfliktpotenzial
Ob dieser Eindruck berechtigt ist, spielt für den Standort keine Rolle: Die Wahrnehmung alleine reicht aus, um Unternehmen daran zweifeln zu lassen, ob die Schweiz noch immer der beste Standort für sie ist. Fundamentalkritik an der direkten Demokratie ist allerdings wenig zielführend, denn sie nährt sich meist am Vergleich mit der Funktionsweise einer repräsentativen Demokratie in einer (nicht existenten) perfekten Welt. Auf die derzeit weit verbreitete Skepsis ist zu entgegnen, dass die Bürger bei Abstimmungen über Volksinitiativen nach wie vor meistens marktfreundlich entscheiden und damit liberalen Anliegen hohe Legitimation verleihen. Einprägsame Ausnahmen wie die Masseneinwanderungsinitiative, die Abzockerinitiative und die Zweitwohnungsinitiative sollten demnach nicht dazu verleiten, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Es kann keine Antwort sein, das Initiativrecht möglichst stark einzuschränken: Wenn einem die Ergebnisse des politischen Prozesses nicht gefallen, bleibt nichts anderes übrig, als noch härter für seine Ideen zu kämpfen. Ebenso gefährlich wäre allerdings die Untätigkeit gegenüber den strukturellen Problemen, die die Volksinitiative im heutigen Umfeld zunehmend aufwirft: Ohne inhaltliche Schranken und mit immer niedrigeren Unterschriftenhürden wird die Zahl der Initiativen mit hohem Konfliktpotenzial weiter zunehmen. Schon heute zeigt sich, dass solche kaum je wortgetreu umgesetzt werden. Je häufiger die Bürger aber feststellen, dass eine Umsetzung nur soweit erfolgt, als sie niemandem weh tut, desto leichtfertiger werden sie weitere radikale Initiativen unterstützen. Die Volksinitiative würde damit an realer Wirkung verlieren, aber trotzdem bzw. sogar vermehrt eine Quelle der Verunsicherung darstellen.
Verbindlichere Volksinitiative
Die Frage muss also lauten: Wie kann die Volksinitiative verbindlicher gemacht werden, damit sie mit mehr Bedacht eingesetzt wird? Wie kann die Gefahr verringert werden, dass Entscheide unüberlegt oder gar mutwillig zustande kommen? Unser Bündel von fünf Reformvorschlägen zeigt hier Auswege.
1. Volksinitiativen sollen neu schonvor der Unterschriftensammlung und durch die Bundeskanzlei inhaltlich geprüft werden. Letztere kann bei der Beurteilung der bisherigen Kriterien etwas strikter vorgehen als das Parlament, das sich in dieser Sache in einem Interessenkonflikt befindet.
2. Um den bisherigen Rückgang derrelativen Unterschriftenhürden zumindest teilweise zu kompensieren, sollen für die Einreichung der altgedienten (Verfassungs-) initiative neu die Unterschriften von 4 % der Stimmbürger nötig sein. 2016 entspräche das 211 000 Unterschriften. Inhaltlich soll die Verfassungsinitiative dafür weiterhin keinen nennenswerten Einschränkungen unterliegen.
3. Die Ausführungsgesetzgebung angenommener Verfassungsinitiativen wird dem obligatorischen Referendum unterstellt.
4. Verfassungskonforme Anliegen sollen direkt auf Gesetzesebene eingebracht werden können und nicht den Umweg über die Verfassung nehmen müssen. Das macht den Prozess für alle Seiten transparenter, schneller und vorhersehbarer. Für die Einreichung einer Gesetzesinitiative wird ein Unterschriftenquorum von 2 % festgelegt, was derzeit 105 600 Stimmberechtigten entspricht.
5. Um für jede Vorlage eine seriösepolitische Debatte zu erleichtern, wird pro Abstimmungstag nur eine Volksinitiative zugelassen.
Die Volksinitiative darf eine Herausforderung für Politik und Wirtschaft bleiben. Die Reformvorschläge schwächen die direkte Demokratie nicht, sondern strukturieren die Mitbestimmung der Stimmbürger besser und nehmen die Hektik aus der politischen Debatte, um die Qualität und Legitimation der Entscheide zu erhöhen. Sie tragen dazu bei, dass die direkte Demokratie auch im 21. Jahrhundert ein wichtiger Standortvorteil für die Schweiz sein kann.
Janusköpfige Demokratie
Die Idee der Freiheit ist mit keiner anderen Staatsform so eng verbunden wie mit der Demokratie. Und doch stehen die beiden in einem Spannungsverhältnis: Dem Liberalismus geht es um die Begrenzung des Staates, auch des demokratischen, damit er die Freiheit der Individuen nicht zu sehr bedränge und verdränge. Der demokratischen Bewegung geht es dagegen einzig um die Frage, wer den Staat lenken und damit über andere Macht ausüben soll und wie diese Staatslenker bestimmt werden sollen. Sogar die direkte Demokratie, wie sie die Schweiz kennt, sichert nicht zwingend möglichst grosse Freiheit, denn es liegt in der Natur des Systems, dass eine Mehrheit die Freiheit einer Minderheit ähnlich massiv beschneiden kann wie ein Diktator. Weil aber solche Entscheide zulasten von Minderheiten – ob Minarett-Verbote, Zweitwohnungs-beschränkungen oder Reichensteuern – mit der Aura der demokratischen Legitimation umgeben sind, erscheinen sie als moralisch weniger angreifbar. Mehr direkte Demokratie ist darum nicht automatisch «besser». Und die Diskussion darüber, ob ein allfälliges Optimum schon überschritten wurde, ist legitim. Vermutlich braucht es neben der Demokratie noch eine starke Dezentralisierung der politischen Macht, damit die Demokratie auch wirklich der Freiheit dient. Deshalb machen erst Föderalismus und Gemeindeautonomie die Direkte Demokratie zu dem, was sie für uns ist, zur Garantin der Freiheit.
Gerhard Schwarz
Dieser Artikel erschien in der «Zürcher Wirtschaft» vom 16.06.2015