Das Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und der EU von 1992 sowie das bilaterale Vertragswerk aus den Jahren 1999 und 2004 bilden den verlässlichen Rechtsrahmen für die vielfältigen und engen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Dieser ermöglicht nicht nur die mehr oder weniger problemlose Abwicklung eines jährlichen Handelsvolumens von über 250 Milliarden Franken, sondern schafft auch günstige Bedingungen für umfangreiche gegenseitige Direktinvestitionen. Das rechtliche Rahmenwerk stellt auch sicher, dass die Schweiz in der Mitte von Europa über ein gutes und belastbares Vertragsnetz mit ihren Nachbarn verfügt. Es erstreckt sich auf diejenigen Gebiete, auf denen es deckungsgleiche Interessen gibt, und belässt der Schweiz in den für sie wichtigen Bereichen der Wirtschaftspolitik (Steuern, Geld und Währung, Arbeitsmarkt) und der Staatspolitik (direkte Demokratie, Föderalismus) genügend eigenen Handlungs- und Entscheidungsspielraum.

Mit der Annahme der Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» vom 9. Februar 2014 wird das bilaterale Vertragswerk einer harten Belastung ausgesetzt. Zwar hat sich das Schweizervolk weder direkt zur Personenfreizügigkeit noch zu den bilateralen Verträgen geäussert, aber es ist klar, dass die Umsetzung der Volksinitiative mit der Personenfreizügigkeit kollidiert, wenn dabei nicht klug vorgegangen wird. Aus staats- und wirtschaftspolitischer Sicht muss es das oberste Ziel sein, die Initiative so umzusetzen, dass das bilaterale Vertragswerk erhalten bleibt. Durch eine sehr enge, möglichst wortgetreue Umsetzung der Initiative werden die Anliegen der Initiative gerade nicht ernst genommen, denn diese Maximalvariante führt dann notwendigerweise zu höheren Kosten, als sich die Initianten ursprünglich wohl gedacht hatten. Ein Kompromiss würde erlauben, das Anliegen teilweise und in der Hauptstossrichtung zu erfüllen und die Kosten relativ tief zu halten.

Zwei Fixpunkte sind für die Umsetzung des Zuwanderungsartikels handlungsweisend: erstens der Wunsch nach weniger Zuwanderung und zweitens die Ausrichtung auf die gesamtwirtschaftlichen schweizerischen Interessen unter Berücksichtigung des Vorranges für Schweizerinnen und Schweizer. Avenir Suisse hat in der Publikation «Avenir Standpunkte» 6 gezeigt, wie diesen beiden Zielen mittels eines Globalziels für den zehnjährigen Migrationssaldo Rechnung getragen werden kann, ohne die Bilateralen I unmittelbar zu gefährden. Leider wählt der Bundesrat in seinem Umsetzungskonzept ein ganz anderes Vorgehen. Ein klares Reduktionsziel wird nicht angestrebt, dafür zielt er auf ein neues Verhandlungsmandat mit der EU für die Anpassung des Abkommens über die Personenfreizügigkeit.

Für den Bundesrat stehen offenbar taktische Überlegungen im Vordergrund, in der Hoffnung, dass es bald zu einer neuen Abstimmung entweder über das heute bestehende bilaterale Regelwerk oder über ein neues Abkommen (Bilaterale III unter Einschluss von institutionellen Fragen, Energie, Steuern) kommt. Auch wenn er das in dem am 20. Juni vorgestellten Konzept nicht ausdrücklich sagt, deuten verschiedene Äusserungen von einzelnen Bundesräten, Beamten und Diplomaten in diese Richtung.

Es wäre staatspolitisch bedenklich, wenn in der Schweiz die Kultur Einzug hielte, Volksabstimmungen einfach rasch zu wiederholen, um frühere unerwünschte Ausgänge zu korrigieren. Man sollte die politische Agenda der Schweiz nicht unnötig mit europapolitischen Abstimmungen belasten, ganz abgesehen davon, dass der Ausgang jeder neuen Abstimmung völlig ungewiss wäre.

Der Vorschlag von Avenir Suisse würde der Schweiz nicht nur Zeit geben, die Zuwanderung ohne Bruch der Personenfreizügigkeit zu reduzieren. Sie könnte auch ihre Rolle und Stellung in Europa und der Welt in Ruhe überdenken und gleichzeitig wie nach dem EWR-Nein von 1992 ein neues wirtschaftspolitisches Reformprogramm zur Standortsicherung umsetzen. Im Übrigen hat die Schweiz gegenüber der EU gar nicht so schlechte Karten in der Hand, ragt sie doch im grösseren europäischen Vergleich mit einer durchschnittlichen Netto zuwanderung zwischen 2007 und 2012 von 1,5 Prozent ziemlich heraus. Das Ziel, die Bilateralen ohne rasche neue europapolitische Abstimmungen zu erhalten, ist deshalb das Gebot nicht nur der Stunde, sondern auch der staatspolitischen Klugheit.

Dieser Artikel erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 03.Juli 2014.
Mit freundlicher Genehmigung der «Neuen Zürcher Zeitung».