AWP Soziale Sicherheit: Braucht die 2. Säule eine sanfte Thalassotherapie oder einen gröberen chirurgischen Eingriff?

Jerome Cosandey: Sowohl als auch. Sie braucht Therapien, die sich gegenseitig ergänzen und verstärken. Durch das Bündeln von Vorschlägen erhöhen sich die Chancen, die unterschiedlichen Interessen der Sozialpartner zu berücksichtigen und einen Konsens zu finden.

300 Pensionskassen seien genug, sagt Avenir Suisse. Weshalb sollen die übrigen 2000 verschwinden?

Mit 300 statt wie heute 2300 Kassen kann man immer noch einen funktionierenden Wettbewerb garantieren. Die 300 Banken in der Schweiz beweisen es. Auch wenn es unter den 2000 kleinsten Kassen durchaus innovative und effiziente Anbieter gibt, gehen heute durch die Fragmentierung der Branche viele Skaleneffekte bei der Verwaltung wie beim Asset Management verloren. Wir schätzen das Synergiepotenzial auf rund 800 Mio. Franken pro Jahr.

Die Unterdeckung vieler öffentlich-rechtlicher Pensionskassen ist Avenir Suisse ein Dorn im Auge. Weshalb das Einprügeln auf diese Kassen, wo doch der Staat die Leistungen garantiert?

Die Frage ist nicht, ob die Leistungen bezahlt werden, sondern wer sie bezahlt. Das System der Teilkapitalisierung bedeutet, dass man heute Leistungen verspricht, wofür das Geld nicht vorhanden ist. Die Rechnung müssen dann unsere Kinder zahlen. Das ist stossend. Es ist doch ein Grundsatz der 2. Säule, dass jede Generation ihre eigene Vorsorge vorfinanziert.

Welche bewährten Modelle könnte die Schweiz aus dem Ausland importieren?

Bei der Wahl der Anlagestrategie und der Vorsorgeeinrichtung würde ich das chilenische Modell als Vorbild nennen, Liechtenstein für die dezentrale Festlegung des Umwandlungssatzes und Schweden für die Regelung des Rentenalters.

Die freie Wahl der Vorsorgeeinrichtung ist für den Bundesrat überhaupt kein Thema. Weshalb bringt Avenir Suisse das Thema trotzdem?

Nebst der Berücksichtigung der individuellen Präferenzen ermöglicht die Koppelung der Vorsorge an den Mitarbeiter statt an den Arbeitsplatz Vorteile für die 300 000 Arbeitnehmer mit mehreren Arbeitgebern und bei Teilliquidationen von Kassen in Unterdeckung. Diese beiden Elemente haben in den letzten Jahren signifikant an Bedeutung gewonnen.

Der Entscheid über den Umwandlungssatz könne dem Stiftungsrat überlassen werden, sagt Avenir Suisse. Damit ist der Willkür Tür und Tor geöffnet.

Der Staat schreibt einen Mindestumwandlungssatz vor, Garantie gibt er keine. Wenn die Unnwandlungssätze langfristig nicht finanzierbar sind, ist diese Mindestvorgabe ein leeres Versprechen. Mir ist ein ehrliches, realistisches Versprechen, das eine Kasse auch einhalten kann, lieber.

Mit der Idee der Vereinfachung des BVG sorgen Sie für Widerstand. Wollen sie all die Berater, Experten, Broker etc. in die Wüste schicken?

Das Zwangssparen in der 2. Säule muss den Versicherten dienen und darf nicht als Ersatz für Industriepolitik gelten. Wir müssen die neuen Spielregeln so definieren, dass die effizientesten, flexibelsten und kundenfreundlichsten Anbieter überleben. Wer die Konkurrenz fürchtet, darf nicht noch vom Gesetz geschützt werden. Viele Bürger verstehen das und werden auch ihren politischen Vertretern in dieser Hinsicht den Rücken stärken.

Dieser Artikel erschien in «AWP Soziale Sicherheit» vom 10.Oktober 2012.