Wer sich je durch den Strassenverkehr der südostasiatischen Metropolen Jakarta, Manila oder Bangkok gequält hat, wird in Singapur aufatmen: Der Stadtstaat ist globaler Vorreiter in Sachen Mobility Pricing und technische Lösungen für die Verkehrsoptimierung. Die durchschnittlichen Reisezeiten, die einem dieApp auf dem Mobiltelefon vorrechnet, werden fast ausnahmslos eingehalten. Im Unterschied zu den Nachbarländern, wo einen Staus für Stunden gefangen halten und der Wirtschaft hohe Produktivitätseinbussen aufbürden, braucht es im dichtbesiedelten Singapur ausserordentliche Umstände wie Überschwemmungen oder schwere Unfälle, damit der Verkehr aus den Fugen gerät.
Strassenmaut und Neuwagenzertifikate
Gedämpft wird das Verkehrsaufkommen zum einen durch prohibitiv hohe Automobilpreise. Die Anschaffung eines Neuwagens ist seit 1990 nur nach dem Kauf eines sogenannten Certificateof Entitlement (COE) möglich. Einmal jährlich legt die Regierung eine Anzahl von Lizenzen fest, von denen jeden Monat ein Teil meistbietend versteigert wird. Der Preis für dieses Zertifikat stieg Anfang 2013 aufgrund der hohen Nachfrage in der Kategorie Kleinwagen auf einen Rekordwert von über 90000 Singapur-Dollar (rund 65 000 Franken). Dies führt dazu, dass die Autopreise mehr als dreimal höher sind als etwa in der Schweiz. Ein Rabatt von umgerechnet rund 12 000 Franken wird in Singapur für ein mit roten Nummern ausgestattetes «Off-Peak»-Fahrzeug gewährt, das an Werktagen nur zwischen 7 Uhr abends und 7 Uhr in der Früh sowie am ganzen Wochenende gefahren werden darf. Ein zentraler Eckpfeiler der Verkehrssteuerung ist seit 1998 das Electronic Road Pricing (ERP). Bereits 1975 hatte Singapur als erstes Land weltweit eine Citymaut eingeführt, damals allerdings noch beschränkt auf den Central Business District. Mit diesem Mautsystem werden an den Eingangspforten des Stadtzentrums zu den Spitzenzeiten Gebühren erhoben, die typischerweise zwischen1 und 2 Dollar betragen. Zu Stosszeiten bzw. auf Strecken mit hohem Verkehrsaufkommen kann der Tarif bis auf 8 Dollarsteigen. Die Gebühr variiert am Morgen und am Abend im Halbstundentakt: je grösser das Verkehrsvolumen, desto höher der Eintrittspreis in die City. Dank dieser Anreize sind die Staus in Singapur nach Einführung des ERP deutlich zurückgegangen. Der Betrag wird über ein Erfassungsgerät, über das jedes Fahrzeug verfügen muss, automatisch abgebucht. Vom ERP nicht befreit sind Taxis, die den Tarif indes auf die Kunden überwälzen.
Anreize zur Verkehrslenkung im öV
Das Road Pricing fügt sich ein in eine Verkehrspolitik, die unter dem Schlagwort «Smart Travel» einen starken Fokus auf finanzielle Anreize legt, auch im öffentlichen Verkehr. Seit Juli 2013 fahren etwa die Benutzer der Untergrundbahn gratis, wenn sie sich mit ihrer Tarifkarte an 16 besonders stark frequentierten Stationen ausserhalb der Rush Hour auschecken. Zwischen 7.45 und8 Uhr winkt immerhin noch ein Rabatt von 50 Cent. Erst danach wird der normale Streckentarif berechnet. Verschiedene Unternehmen in Singapurs Zentrum haben sich bereit erklärt, flexiblere Arbeitszeitmodelle zu schaffen, damit die Mitarbeitenden, die morgens früher beginnen, am Nachmittag zeitig nach Hause aufbrechen können.
Über zeitlich differenzierte Preise sollen die Verkehrsspitzenwährend der Rush Hour geglättet werden, wobei die Preisstaffelung über Rabatte ausserhalb der Stosszeiten statt über Preisaufschläge während der Hauptverkehrszeit erfolgt. Diesem Ziel verpflichtet ist auch das sogenannte Insinc-Programm. Pendler, die sich dafür einschreiben, kommen in den Genuss von Bonuspunkten für jeden gefahrenen Kilometer mit der Untergrundbahn (Mass Rapid Transport, MRT genannt) beziehungsweise den Zubringerzügen der Light Rail Transit (LRT). Wer die Rush Hour zwischen 7.30 und 8.30 Uhr meidet, erhält bis zu sechsmal so viele Punkte, die von den shoppingbesessenen Singapurern schliesslich in Warengutscheine gewechselt werden können.
Die Teilnehmer dieses von den Transportbehörden in Zusammenarbeit mit der amerikanischen Stanford University und der National University of Singapore erarbeiteten Pilotprojekts akzeptieren im Gegenzug, dass ihre Pendlergewohnheiten ausgewertet werden. Durch das 2012 lancierte Insinc-Programm konnten 10 Prozent jener Pendler, die während der Spitzenzeiten den öffentlichen Verkehr benutzt hatten, dazu motiviert werden, ihre Gewohnheiten zu ändern.
Singapurs Bevölkerung ist mit einer multimodalen, beliebig aufladbaren Wertkarte unterwegs, die von den verschiedensten Transportmitteln (MRT, LRT, Bus, Taxi) akzeptiert wird und neuerdings sogar für die Bezahlung beim Road Pricing verwendet werden kann. Das elektronische Zahlungssystem ermöglicht ein kontaktloses Registrieren. Der Passagier hält seine Karte beim Einsteigen ebenso an eine Zahlschranke wie beim Aussteigen. Beim Ausstieg werden der verbuchte Streckentarif sowie der Restbetrag auf der Karte ausgewiesen. Fällt dieser unter 5 Dollar, wird man über ein visuelles Signal ermahnt nachzuladen. Mit derselben Karte können auch das Taxi bezahlt, eine Zeitung gekauft oder die Parkhausgebühren bezahlt werden.
Die kreditkartengrosse Chipkarte bietet zwar einen mit einem Generalabonnement (GA) vergleichbaren Komfort, da die verschiedensten Verkehrsmittel flexibel, und ohne ein Billett lösen zu müssen, benutzt werden können. Allerdings verleiten diese populären Wertkarten, bei denen jede Fahrt einzeln abgerechnet wird, nicht zum Überkonsum wie ein GA, das auf einer Flat Rate basiert. Apps, also spezielle Softwareprogramme für Smartphones, ermöglichen es den Verkehrsteilnehmern, verschiedene Transportoptionen bezüglich Reisezeit und Kosten jederzeit zu vergleichen und die Wahl ihrer Routen und Transportmittel flexibel anzupassen. Zwar gibt es auch in Singapur weiterhin ein GA, doch ist der Preis dafür vergleichsweise hoch angesetzt.
Bevölkerungsdruck als Innovationstreiber
Mit diesen und anderen Innovationen war Singapur in den letzten 40 Jahren immer wieder Vorreiter bezüglich Verkehrsmanagement. Das starke Bevölkerungswachstum stellt die Regierung vor neue Herausforderungen. Innerhalb des vergangenen Jahrzehnts hat sich die Bevölkerungszahl mit dem von den Behörden geförderten Zuzug ausländischer Fach- und Hilfskräfte um 27 Prozent auf 5,3 Millionen erhöht. Klagen über überfüllte Busse und Züge sowie eine Zunahme von Staus sind unüberhörbar, wenngleich man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass es sich um ein Klagen auf sehr hohem Niveau handelt.
Der wachsende Wohlstand führte zu einem Anstieg der Autobesitzer:2004 hatten lediglich 38 Prozent der Haushalte ein eigenes Auto. Inzwischen sind es 45 Prozent. Gleichwohl will die 650 Quadratkilometer kleine Republik, deren Strassen 12 Prozent der Fläche ausmachen, keine weiteren Strassen bauen, sondern die Steuerung des Privatverkehrs optimieren und gleichzeitig die Kapazitäten im öffentlichen Verkehr ausbauen. Bis 2020 soll etwa das U-Bahn-Streckennetz verdoppelt werden.
Obwohl es den Stadtplanern zweifellos gelungen ist, Singapur vor einem Verkehrsinfarkt zu bewahren, hat das gegenwärtige System einige Schwächen offengelegt. Wer sich dazu entschieden hat, ein Auto anzuschaffen, will es auch gebrauchen, zumal es in Singapur nach zehnjähriger Betriebszeit ersetzt werden muss und damit hohe Kosten für ein neues Zertifikat anfallen (dies als Anreiz für eine stetige Modernisierung des Fuhrparks). Wer für ein Auto rund 100 000 Singapur-Dollars oder mehr bezahlt hat, lässt sich von ein paar Dollars für die ERP-Gebühren an den Eingangspforten zur Stadt nicht abschrecken. Zudem stellten die Stadtplaner fest, dass innerhalb der besteuerten Zonen wenig Anreiz besteht, auf Autofahrten zu verzichten: Bezahlt werden muss nur bei der Zufahrt, aber nicht für Fahrten innerhalb der Mautsektoren. Der von einer kompetenten Technokratenregierung straff geführte Stadtstaat, der die Suche nach Effizienzsteigerungen wie wohl kein anderes Land verinnerlicht hat, peilt daher bis 2018 die Einführung eines satellitengestützten Systems (Global Positioning System, GPS) an, das es erlaubt, zu einer nach Strassentyp und Fahrleistung flexiblen Besteuerung überzugehen. Mit einem solchen innovativen System, das eine stärkere Differenzierung der Gebühren nach Zeiten und Strecken zuliesse, würde Singapur wohl ein weiteres Mal zum globalen Pionier in Sachen Mobility Pricing werden.
Marco Kauffmann Bossart ist seit 2010 Südostasien-Korrespondent der NZZ mit Sitz in Singapur. Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Zürich war er zunächst für das Bundesamt für Aussenwirtschaft (Bawi) in Bern tätig. Später berichtete er für den «Tagesanzeiger» und «Finanz und Wirtschaft» aus Japan.
Dieser Artikel erschien in der Sonderbeilage «Der Preis ist der Weg» des «Schweizer Monat» (Oktoberausgabe). Mit freundlicher Genehmigung des Schweizer Monats.