Nationalstolz ist kein richtiger Stolz, sondern Chauvinismus. Gegenüber den politischen Institutionen des Landes braucht es statt mythischer Verklärung ein pragmatisches Verhältnis.

Dem Stolz – einem festen Bestandteil in der Umfrage des Sorgenbarometers – wird oft Unrecht getan. Er ist an sich eine edle Regung, durchaus nicht blind gegen Schwächen. Der Begriff wird jedoch häufig unzulässig ausgedehnt. Stolz kann man streng genommen nur auf eigene Verdienste sein oder auf die Verdienste einem nahestehender Personen, sofern man in gewisser Weise daran beteiligt war. Der Stolz auf einen Sachverhalt, zu dem man nichts beigetragen hat, ist hingegen kein Stolz, sondern Hochmut.

Jegliche Form von Nationalstolz ist darum kein richtiger Stolz, sondern Chauvinismus – zumindest in den meisten Fällen, denn nur die wenigsten Zeitgenossen können von sich behaupten, die Nation, in der sie leben, entscheidend mitgeprägt zu haben. In der Schweiz geboren worden zu sein, sollte einen deshalb nicht mit Stolz erfüllen, sondern mit Dankbarkeit. Ebenso verfehlt ist der Stolz auf die Alleinstellungsmerkmale der Schweiz, die vermutlich zu einem erheblichen Anteil für den Erfolg unseres Landes verantwortlich sind: der stark gelebte Föderalismus, die direkte Demokratie, das Milizsystem und die Bürgernähe der Schweizer Politik.

Luxusproblem: Dichtestress

Das Problem mit diesem falsch verstandenen Stolz ist: Er mystifiziert gerne den Status quo und erschwert damit eine nüchterne Beurteilung. Die Schweiz ist mit ihren politischen Institutionen in den letzten Jahren sehr gut gefahren. Von der Wirtschaftskrise, die viele europäische Staaten in ihren Grundfesten erschüttert hat, war kaum etwas zu spüren, als Luxusproblem kämpft das Land mit einer starken Einwanderung und angeblichem Dichtestress. Es ist naheliegend und vermutlich auch nicht falsch, den Grund für diesen Erfolg in unseren Institutionen zu sehen. Falsch hingegen wäre es, diese in jetziger, unveränderter Form als Garant für einen fortwährenden Erfolg zu feiern: Noch Ende der 1990er-Jahre bezeichneten gewisse Stimmen ebendiese Institutionen als mögliche Schuldige für die damalige Wachstumsschwäche.

Zwar konnten mit dem Binnenmarktgesetz (1996) und der Neugestaltung des Finanzausgleichs NFA (2008) seither zwei sehr wichtige Reformen umgesetzt werden. Abgesehen davon sind die Herausforderungen aber nicht kleiner geworden:

Die Schweiz ist immer noch sehr kleinräumig organisiert. 8,1 Millionen Einwohner verteilen sich auf 26 Kantone und 2350 Gemeinden. Kompetenzen werden deshalb zunehmend von den Gemeinden an die Kantone und von den Kantonen zum Bund verschoben, was die Vorteile, die man sich von der Kleinräumigkeit verspricht – allen voran die dezentrale Entscheidungsfindung – ad absurdum führt.

Die meisten politischen Ämter, insbesondere auf Gemeinde- und Kantonsebene, werden in der Schweiz nebenberuflich erfüllt. Dieses vielgepriesene Milizsystem steht aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen (erhöhte Mobilität, anforderungsreiche Berufslaufbahnen, immer komplexere Aufgabenstellungen) unter Druck.

Die direkte Demokratie wird überstrapaziert, weil die Unterschriftenhürden zur Einreichung von Initiativen und Referenden stark gesunken sind. Die zunehmende internationale Vernetzung wirft die Frage auf, wie mit dem Verhältnis zwischen nationalem und internationalem Recht umgegangen werden soll. Initiativen stellen nicht mehr eine nötige Gegenkraft zum parlamentarischen Prozess dar, sondern verkommen zum Volksabsolutismus, der das Prinzip der verhältnismässigen Machtausübung oft verletzt und somit die Freiheit von Einzelnen stärker beschränkt, als es für das Erreichen gemeinsamer Ziele nötig wäre.

Die Eigenständigkeit der Schweiz – sofern diese auch als politische Institution zu sehen ist – ist uneingeschränkt zu begrüssen und zu verteidigen. Es muss jedoch klar sein, dass Eigenständigkeit nicht Abschottung oder fehlenden Vernetzungswillen bedeutet, sondern Souveränität.

Bei aller Freude über den bisherigen Erfolg der politischen Institutionen der Schweiz ist ein pragmatisches Verhältnis zu ihnen nötig. Falscher Stolz macht blind und erschwert nötige Anpassungen. Vielmehr sollten wir froh sein, dass wir in ein Land mit einem der höchsten Lebensstandards hineingeboren wurden und uns dafür einsetzen, dass dieser Lebensstandard auch in Zukunft gehalten werden kann.

Dieser Artikel erschien im Dezember 2014 in der 
Credit-Suisse-Publikation «Kompass für die Schweiz».