Diese Reaktion war neu. Diese Mischung aus Amusement und einem Quäntchen Mitleid, mit der Freunde meine Ankündigung zur Kenntnis nahmen, ich würde fast zur gleichen Zeit wie Donald J. Trump in die amerikanische Hauptstadt ziehen. Ich für vier Monate, er für – vielleicht – vier Jahre. Ganz anders wäre das acht Jahre zuvor gewesen, als Barack Obama bei seinem Amtsantritt vor allem in Europa als Heilsbringer gefeiert wurde und man die USA endlich wieder ohne Scham mögen durfte.

Die amerikanische Seele vs. Washington

Nach acht Jahren als Ökonom in der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse soll mir der Aufenthalt in Washington einen Einblick in die Arbeitsweise der Think-Tanks im angelsächsischen Raum ermöglichen. Gleichzeitig erhoffe ich mir den einen oder anderen Blick in die amerikanische Seele, um die Trump-Wahl besser zu verstehen. Allerdings ist die amerikanische Hauptstadt dafür wohl der schlechteste Ort der ganzen USA: In D.C. gingen 282’830 Stimmen für Hillary Clinton ein und 12’723 für Trump.

Die Entrücktheit Washingtons hat bei den Amerikanern einen Namen. «Inside the Beltway» nennen sie das Paralleluniversum aus Politikern, Beratern, Lobbyisten, Think-Tanks und Medienvertretern in der Bundeshauptstadt. Mit Beltway ist der Autobahnring der Interstate 495 gemeint, der neben DC auch benachbarte Teile der Staaten Virginia (mit dem Pentagon jenseits des Potamac Rivers) und Maryland umschliesst.

Erstaunlich dabei ist, dass sich diese Stadt überhaupt nicht wichtig anfühlt. Kaum etwas lässt vermuten, dass hier das Machtzentrum der Welt beheimatet ist. Mit knapp 700’000 Einwohnern ist Washington sozusagen eine Kleinstadt. Die Hälfte der Bevölkerung ist schwarz, 30% sind weiss, 15% Latinos. Eine Skyline findet man nirgends, denn schon 1910 wurde festgelegt, dass kein Gebäude höher sein darf als die Breite der angrenzenden Strasse +20 Fuss (6,1 Meter). Ursprünglich wollte man sich bei der Höhenbeschränkung am Kapitol (Sitz des Parlaments) orientieren. Dieses Gebäude vermag immerhin zu beeindrucken, es wirkt imposanter als aus Film und Fernsehen bekannt. Das Weisse Haus steht hingegen ziemlich unscheinbar und weiträumig vom Secret Service abgesperrt in der Downtown. Ausserhalb des Zentrums ist das Stadtbild von schmalen, zwei- bis dreistöckigen Reihenhäuschen viktorianischen Stils geprägt. Das schaut nett aus, urban ist es nicht. Kein Wunder, dass Trump, der nur in Superlativen denkt und bei dem alles, inkl. seiner roten Krawatte, (zu) gross sein muss, eher widerwillig von seinen Trump Towers in New York City ins beschauliche Washington dislozierte.

Viele Menschen in Washington begegnen dem Phänomen Trump mit erstaunlicher Gelassenheit. (Bild: Lukas Rühli)

Viele Menschen in Washington begegnen dem Phänomen
Trump mit erstaunlicher Gelassenheit. (Bild: Lukas Rühli)

Da diese Abneigung gegenseitiger Natur ist, erwarte ich Washington in einem Zustand grosser innerer Unruhe. Ich rechne mit Frust, vielleicht Angst, Wut, zumindest mit ständigen Demonstrationen. Ich treffe wenig davon an. Demonstrationen finden statt, ja, aber sie wirken kaum weniger erzwungen als die üblichen Samstagsnachmittagsdemonstrationen auf dem Zürcher Helvetiaplatz. Trump ist nicht Voldemort. Man scheut sich nicht, über ihn zu reden, zu lästern, zu spassen. Die meisten verachten ihn, den wenigsten scheint er aber emotionell eine Belastung zu sein. Das Vertrauen in die amerikanischen Institutionen ist gross und Alltag bleibt ohnehin Alltag.

Unterschiede in den Ähnlichkeiten

Mal abgesehen vom in den USA ausgiebig gelebten Nationalstolz ist das amerikanische Spektrum der politischen Ansichten dem mitteleuropäischen ähnlicher, als man aus der politischen Singularität «Trump» zu schliessen geneigt ist. Die Medienberichte unterscheiden sich kaum von jenen im europäischen Blätterwald. Die Analysen der deutschsprachigen Zeitungen orientieren sich an der Washington Post und der New York Times. In der Schweiz werden also letztlich die amerikanischen News gelesen, nur eben auf Deutsch und ein paar Stunden später.

Es ist wohl viel eher so, dass man in der grundsätzlichen Ähnlichkeit die Unterschiede besser erkennt. Verschieden sind vor allem gewisse Begriffe. «The Liberals» sind in den Staaten die Linken, parteitechnisch bei den Demokraten anzusiedeln, die für die Homoehe, legale Abtreibung und Drogenliberalisierung votieren, während sie die klassische amerikanische Freiheit des Waffenbesitzes kritisieren und Markteingriffe des Staates sowie eine stärkere Umverteilung von Reich zu Arm befürworten. Wer für die Freiheit des Individuums nicht nur in sozialen, sondern auch in wirtschaftlichen Belangen einsteht, im europäischen Sinne also der klassische Liberale, nennt sich jenseits des Teichs Libertarian.

Meinen Aufenthalt verbringe ich beim Cato Institute, einer Speerspitze dieser libertären Bewegung, die sich weder bei den Republikanern geschweige denn bei den Demokraten richtig zuhause fühlt. Die Konsequenz und intellektuelle Schärfe, mit der hier liberale Ideale verfochten werden, beeindrucken mich. Kaum einer, der nicht zu Diskursen über die Arbeiten der grossen Aufklärer und liberalen Leuchttürme wie Locke, Hume, Bastiat oder Hayek fähig ist. Man will hier weniger Macht in den Händen eines einzelnen Präsidenten, weniger Macht beim Zentralstaat, keine kriegerischen Auseinandersetzungen im Ausland – man will eigentlich die Schweiz.

Auch bei Cato begegnet man dem Phänomen Trump allerdings mit einer fast schon enttäuschenden Gelassenheit. In den Gängen herrscht grösstenteils Business as Usual. Trump wird zwar als Missstand betrachtet, als Missstand allerdings, der überwunden werden wird. Scham spürt man keine. Präventive Rechtfertigungen, eine Spezialität der Schweizer, hört man kaum. Und einer klaren Mehrheit der Libertären ist Amerika unter Trump immer noch lieber als Europa – unabhängig davon, welche Politiker da gerade an der Macht sind. Einige junge Libertäre – meist jene ohne Auslanderfahrung – haben gar ziemlich überzeichnete Vorstellungen von Europa als sozialistischem Albtraum, in dem die Freiheitsrechte des Individuums drastisch beschnitten sind. Es ist seltsam, so etwas aus einem Land zu hören, das mehr Menschen in Gefängnisse steckt als jedes andere, das einen desaströsen Drogenkrieg führt, das seine eigenen Bürger grossflächiger überwacht, als diese sich je vorstellen konnten, und in dem man auf offener Strasse kein Bier trinken darf.

Eine Chance für die USA

Diese eigentlich typisch amerikanische Gelassenheit ist aber im Umgang mit Trump wahrscheinlich das richtige Rezept. Mit einer forcierten Amtsenthebung würden sich Trumps Gegner ins eigene Knie schiessen. Trumps Anhängerschaft ist bisher nicht deutlich erodiert. Nur 3% seiner Wähler bereuen ihre Entscheidung. Nach einer Amtsenthebung würden keine Neuwahlen durchgeführt, sondern Trumps Vize, Mike Pence, käme an die Macht. Dessen politische Agenda ist keinen Deut besser als jene Trumps, noch dazu ist er intelligenter, was ihn – gerade mit dem Goodwill, dem man ihm in den Anfangszeiten wohl entgegenbrächte – wirkungsvoller machte als Trump.

Trumps Wahl kann sich im besten Fall als heilsam herausstellen: Einerseits für Europa. Die populistischen Tendenzen schlagen sich hier seither plötzlich nicht mehr in Wahlerfolgen nieder. Anderseits für die USA selbst: Wahrscheinlich trägt Obama eine «Mitschuld» an Trumps Wahl. Mit seinem Intellekt, seiner menschlichen Grösse, seiner Besonnenheit und seiner grandiosen Eloquenz war Obama vielen Amerikanern emotionell nicht allzu nah. Sein tatsächlicher Erfolgsausweis war dann enttäuschend, gerade angesichts riesiger Vorschusslorbeeren wie dem Friedensnobelpreis. Nachdem sie also gesehen hatten, wie der Streber gescheitert ist, wählten sie das Gegenmodell, den Bully. Die grosse Chance für Amerika ist es, während voller vier Jahre mit allen Konsequenzen mitzuerleben, wie das Gegenmodell noch viel grässlicher scheitert. Und sich lange genug daran zu erinnern.