Vor dreissig Jahren wurde das Gesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen-und Invalidenvorsorge (BVG) verabschiedet. Die damaligen Prämissen haben sich seither signifikant verändert. Heute sind neue Ideen gefragt.
Unsere heutige Gesellschaft ist stark durch Individualisierung im privaten wie im beruflichen Umfeld gekennzeichnet. Die «normale Laufbahn» gibt es nicht mehr. Hohe Scheidungsraten, Patchwork-Familien, die steigende Beteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt und die zunehmende Abkehr von der traditionellen Rollenverteilung (Vater Ernährer, Mutter Erzieherin) führen zu neuen Erwerbsmustern.
Auch das berufliche Umfeld verändert sich stark. Mehr Mobilität (Wechsel der Arbeitgeber, Home Office, Auslandeinsätze), nicht lineare Karrieren aufgrund von Aus- und Weiterbildung oder der Sprung in die Selbstständigkeit, Mehrfachbeschäftigung sowie eine starke Zunahme der Anzahl Neugründungen, Fusionen und Firmenschliessungen machen jede Biografie mehr denn je einzigartig.
Veränderte Prämissen
Die Lebenserwartung im Alter von 65 ist seit Einführung der AHV um sieben Jahre (50 Prozent) gestiegen. Betrug sie 1948 für Männer lediglich 12,4 Jahre, stieg sie bis 2009, dank höherem Wohlstand und medizinischem Fortschritt, auf 18,8 Jahre. Die Schweizer leben aber nicht nur länger, sondern bleiben auch länger gesund und können ihren Ruhestand viel mehr als frühere Generationen geniessen. Noch im Jahr 1992 konnten zum Beispiel Frauen, bei guter Gesundheit, im Durchschnitt mit 11,9 Pensionsjahren rechnen. 2007 lag diese Zahl bereits bei 13,5 Jahren.
Die Umwandlungssätze im BVG widerspiegeln diese demografischen Trends und die aktuellen Entwicklungen am Kapitalmarkt nicht. Die gesetzlichen Umwandlungssätze von 6,9 Prozent (2012) und 6,8 Prozent (ab 2014) wurden aufgrund der Lebenserwartung der Rentenbezüger, wie sie vor dem Jahr 1990 gemessen wurde, und mit einer durchschnittlichen Renditenerwartung von 4,0 Prozent bestimmt (ohne Verwaltungskosten). Zum Vergleich ist seit 2000 der Pictet-BVG-25-Index – der die Anlagestrategie einer durchschnittlichen Pensionskasse wiedergibt – jährlich um 2,7 Prozent gestiegen. Technisch gesehen sind die zugesprochenen Renten deshalb zu hoch und nicht voll finanziert. Dies führt zu Umverteilungen zwischen Aktiven und Rentnern sowie zwischen Obligatorium und Überobligatorium, die beim Kapitaldeckungsverfahren systemwidrig sind. Je nach Soll-Umwandlungssatz betragen diese Umverteilungen 600 Millionen bis 1500 Millionen Franken – und zwar jährlich.
Trotz BVG-Revision und Strukturreformen hält das Gesetz mit den veränderten Prämissen seit 1985 nicht Schritt. Durch seine Verankerung im Gesetz ist die Anpassung des Umwandlungssatzes an demografische und ökonomische Trends erschwert. Mittelfristig ist dadurch die nachhaltige Finanzierung der beruflichen Vorsorge gefährdet. Ebenfalls werden immer mehr Stimmen laut, die den Gestaltungsspielraum für Arbeitnehmer gesetzlich einschränken wollen, trotz steigender Individualisierung der Gesellschaft. Deshalb drängt sich eine Verjüngungskur für die berufliche Vorsorge auf.
Rentenalter im OECD-Vergleich
Drei Stellschrauben können eine nachhaltige Finanzierung der 2. Säule sichern: Renten kürzen, mehr sparen oder länger sparen. Rentenkürzungen haben kaum Chancen, dies hat die Umwandlungssatz- Abstimmung im März 2010 gezeigt. Mehr sparen führt zu kleineren verfügbaren Einkommen der aktiven Bevölkerung und zu einer Verschlechterung der Standortattraktivität der Schweiz. Folglich müssen wir länger sparen, was einer Rentenalterserhöhung gleichkommt. Obwohl die Schweiz im internationalen Vergleich mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 82,3 Jahren sehr gut dasteht – und innerhalb der OECD nur von Japan (83,0 Jahre) übertroffen wird – treffen hierzulande politische Vorstösse zur Erhöhung des Rentenalters auf heftigen Widerstand.
Ein anderer Trend lässt sich in 11 OECD- Ländern beobachten, die bereits eine Erhöhung des Pensionsalters auf 67 bzw. 68 Jahre entweder beschlossen oder bereits umgesetzt haben. Darunter sind Dänemark und Norwegen, aber auch südeuropäische Länder wie Italien und Spanien zu finden. In allen elf Ländern liegt die Lebenserwartung mindestens fünf Monate tiefer als in der Schweiz (vier Jahre in den USA, fünf Jahre in Tschechien) und der Anteil der Bevölkerung im Landwirtschafts- und Industriesektor, der eine stärkere körperliche Abnützung mit sich bringt, ist im Vergleich meistens höher. Eine Erhöhung des Rentenalters in der Schweiz erscheint deshalb vertretbar.
Flexibles Rentenalter erwünscht
Automatismen können dabei die politische Debatte rund um das Rentenalter entschärfen. Abrupte Erhöhungen des Rentenalters sind politisch fast chancenlos. Avenir Suisse schlug deshalb 2009 vor, das Rentenalter jährlich um 1,5 Monate zu erhöhen. Arbeitnehmer, die kurz vor der Pensionierung stehen, müssen ihre Arbeitszeit lediglich um einzelne Monate verlängern, jüngere Erwerbstätige sind stärker betroffen, haben dafür mehr Zeit, um zu disponieren. Einen noch konsequenteren Weg geht Dänemark: Dort wird ab 2027 das Rentenalter an die Lebenserwartung gekoppelt, sodass die durchschnittliche Pensionsdauer immer bei 14,5 Jahren bleibt. Die Anhebung oder Senkung des Rentenalters wird regelmässig geprüft und mit 15 Jahren Vorlaufzeit angepasst.
Noch besser wäre es, das starre ordentliche Rentenalter zu Gunsten eines flexiblen Pensionierungszeitpunkts ganz abzuschaffen. Dabei wäre gesetzlich nur eine Untergrenze für die Frühpensionierung vorgegeben. Je später die Pensionierung erfolgt, desto höher fällt die Rente aus. Dieses Modell wird in Schweden praktiziert. Dort kann jeder aufgrund seiner persönlichen Präferenzen und seiner finanziellen Situation sein Rentenniveau (und sein Rentenalter) selbst steuern. Dieses Modell fördert auch die Einbindung älterer Mitarbeiter in den Arbeitsprozess, mitunter auch in Teilzeitanstellungen. Erfahrene und gut qualifizierte Arbeitnehmer scheiden dadurch nicht mehr automatisch aufgrund einer willkürlichen Altersguillotine aus dem Arbeitsprozess aus. Volkswirtschaftlich wäre dieser Weg aufgrund der sich abzeichnenden Arbeitskräfteknappheit sinnvoll. Bis zu einem gewissen Grad kann die Ausschöpfung des Pools der älteren Arbeitnehmer die Immigration ersetzen.
Vorsorge nach Präferenz
Die bestehenden Gestaltungsmöglichkeiten im BVG sollten beibehalten, die damit verbundenen externen Kosten jedoch weitgehend ausgeschlossen werden. Der Kapitalbezug bei der Pensionierung sollte nur für Kapitalien oberhalb von 250 000 Franken zugelassen werden, darunter muss das Altersguthaben verrentet werden. Diese Grundrente zusammen mit der AHV-Vollrente würde ausreichen, um eine Abhängigkeit von der Sozialhilfe auszuschliessen. Die Wohneigentumsförderung (WEF) soll weiterhin möglich sein. Dank den neuen Mindestanforderungen der Schweizerischen Bankiervereinigung für Hypothekarfinanzierungen (mindestens 10 Prozent an Eigenmitteln, die nicht aus der zweiten Säule stammen), ist das Risiko der Armut im Alter reduziert.
Die freie Wahl der Anlagestrategie durch die Arbeitnehmer soll weiterhin möglich und sogar ausgeweitet werden. Dafür muss Art. 17 FZG (Motion Stahl) rasch angepasst werden. Versicherte, die ihre eigene Anlagestrategie im Rahmen von Art. 1e BVV2 (d.h. nur für Einkommen oberhalb von 125 280 Franken) wählen und aus der Pensionskasse austreten, profitieren heute bei positiver Börsenentwicklung von überdurchschnittlichen Renditen, übertragen jedoch allfällige Börsenverluste ihrer Vorsorgeeinrichtung. Gewinne werden privatisiert, Verluste kollektiviert. Ist dieser stossende Umstand aufgehoben, soll die freie Wahl der Anlagestrategie auf das ganze Überobligatorium ausgeweitet werden (ab 83 520 Franken Einkommen). Damit könnten rund 40 Prozent statt der heutigen 10 Prozent der Bevölkerung einen Teil ihrer Vorsorge nach ihren Präferenzen gestalten.
Individuelle Lebenslaufbahnen berückrichtigen
Eine Koppelung der beruflichen Vorsorge am Arbeitnehmer statt an der Arbeitsstelle würde das Problem der Mehrfachbeschäftigung entschärfen. In der Schweiz arbeiten mehr als 300 000 Erwerbstätige für zwei oder mehrere Arbeitgeber. Trotz Gesamtlohn über der BVG-Eintrittsschwelle von 20 880 Franken werden viele dieser Mitarbeiter von der beruflichen Vorsorge nicht erfasst, da der Koordinationsabzug mehrfach abgezogen wird.
Der fehlende Informationsfluss zwischen Arbeitgebern und Vorsorgeeinrichtungen ist ein Haupthindernis für die Gesamtbeurteilung der finanziellen Situation von Mehrfachbeschäftigten. Kann ein Arbeitnehmer selber seine Vorsorgeeinrichtung wählen, so fliessen alle seine Lohndaten zu einer Institution, was die Festlegung des koordinierten Lohns und der BVG-Beiträge für die unterschiedlichen Arbeitgeber vereinfacht.
Diese Koppelung der Vorsorge am Arbeitnehmer würde die Probleme von Teilliquidationen bei Unterdeckung weitgehend lösen. Schliesst eine Firma oder verlegt sie einen Teil ihrer Aktivität ins Ausland, so wird ihre Vorsorgeeinrichtung teilliquidiert. Ist die Pensionskasse in Unterdeckung, so müssen die Altersguthaben der Mitarbeiter entsprechend gekürzt werden. Solche Einschnitte in der beruflichen Vorsorge der Mitarbeiter würden bei einer Koppelung der Pensionskasse am Arbeitnehmer entfallen, da der Wechsel zu einer anderen Pensionskasse hinfällig wäre.
Dank freiem Zugang zu allen Vorsorgeeinrichtungen kann ein Mitarbeiter seine Vorsorge nach seinen Bedürfnissen punkto Leistungen, Kosten, Stabilität und Kundenorientierung gestalten. Dazu erhält der Versicherte die Möglichkeit, Vorsorge- und Arbeitsplatzrisiken zu diversifizieren. Nur mit einer solchen Reform wird dem Wettbewerbsgedanken ganz zum Durchbruch verholfen und eine stärkere Ausrichtung der Produktgestaltung an die Bedürfnisse der Arbeitnehmer ermöglicht.
Das Ziel vor Augen halten
Bestimmt brauchen solche Reformen Zeit und können nicht alle gleichzeitig angegangen werden. Manche Vorschläge stellen sogar visionäre Vorstellungen dar, die im aktuellen politischen Umfeld noch wenig Chancen haben.
Dennoch ist es entscheidend, sich solche langfristigen Ziele stets vor Augen zu halten. Nur so kann sichergestellt werden, dass dringende Massnahmen, die rasch beschlossen und umgesetzt werden (z.B. Senkung des Umwandlungssatzes), weitere wichtige Massnahmen nicht präjudizieren, die mittel- bis langfristig implementiert werden müssen.
Dieser Artikel erschien in «Vorsorge-Guide» vom September 2012.