Vorarlberg ist anders als der Rest von Österreich. Man spricht hier Alemannisch, nicht Bajuwarisch, die Flüsse entwässern weitgehend zum Rhein und kaum zur Donau, aber am wichtigsten ist: Vorarlberg ist nicht Kernland, sondern ausgeprägt Grenzland – seit eh und je. Zwar liegt es nicht an einer Grenze zum lateinischen oder slawischen Sprachraum, aber dafür ist seine Anbindung an das übrige Österreich besonders schwach. Seine Grenzen mit Deutschland, der Schweiz und Liechtenstein sind viermal so lang wie jene mit dem österreichischen Bundesland Tirol. Grenzgebiete schwanken zwischen Abwehr und Brückenschlag, zwischen abgrenzender Identitätssuche und befruchtender Verbindung über die Grenze hinweg, oft sogar in Kriegszeiten. Meist findet all das gleichzeitig statt, und deshalb zeichnen sich Grenzgebiete fast immer durch spannende Mischungen aus, die oft ein Nährboden für Kreativität und Unternehmertum sind. Das trifft auch auf Vorarlberg zu. Für den in Vorarlberg aufgewachsenen, seit Beginn des Studiums (also fast drei Viertel seines bisherigen Lebens) in der Schweiz lebenden und viel in der Welt herumgekommenen schweizerisch-österreichischen Doppelbürger liegt in diesem Grenzlandcharakter, in der Mischung aus österreichischen und schweizerischen Elementen, das Besondere und Attraktive des «Ländles», wie die Vorarlberger ihr Bundesland liebevoll nennen.

Flexibilität als Grundausstattung

Wenn man von der Schweiz kommend über den Rhein nach Österreich fährt, empfindet man manches in Vorarlberg etwas offener und lockerer, unkomplizierter und gemütlicher als zu Hause. Man gewinnt aber gelegentlich auch den Eindruck, dass man die Dinge dort selbst dann nicht so genau nimmt, wenn man es eigentlich sollte. Die Bevölkerung scheint etwas musischer, der Umgang wirkt weniger bloss efflzienzorienfiert, die Leute strahlen mehr genuine Freundlichkeit aus, ohne sich anzubiedern, Humor und Selbstironie sind weit verbreitet, Flexibilität und Improvisation gehören fast zur Grundausstattung. Kurz: man fühlt sich bereits in Österreich.

Von Osten, vor allem von Wien her kommend ist es genau umgekehrt. Vieles wirkt etwas strenger und sturer, aber gleichzeitig geniesst Handschlagqualität, also Verlässlichkeit in jeder Hinsicht (Termintreue, Pünktlichkeit, das Einhalten von Abmachungen) einen hohen Stellenwert. Die Sensibilität gegenüber Interessenkonflikten und Freunderlwirtschaft scheint ausgeprägter. Und natürlich kommen auch all die anderen, weiter östlich gepflegten Klischees über die etwas verächtlich «Gsiberger» genannten einzigen Alemannen Österreichs nicht ganz von ungefähr: Arbeitsamkeit, Sparsamkeit bis zum Geiz, Unbestechlichkeit, eine gesunde Skepsis gegenüber zu viel Staat, mehr Bescheidenheit im Auftritt, mehr Eigenverantwortung, aber vielleicht weniger Lebenslust und insgesamt eine gewisse Nüchternheit. Man wähnt sich fast in der Schweiz. Dazu trägt der Dialekt nicht unwesentlich bei. Er erscheint den meisten Menschen östlich des Arlbergs schweizerisch und somit unverständlich.

Die nüchterne Beschränkung auf das Wesentliche, wie sie etwa in der (nicht in allen Teilen des Landes gleich ausgeprägt gepflegten) modernen Vorarlberger (Holz-)Architektur zum Ausdruck kommt, ist immer wieder besonders wohltuend, wenn man sie vergleicht mit der barocken bajuwarischen Üppigkeit, aber auch mit der da und dort etwas neureichen Protzigkeit oder den Zweitwohnungs- Spekulationsobjekten Helvetiens. Es ist übrigens österreichweit, ja wohl weltweit die einzige Architekturszene, die nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie von spektakulären Repräsentationsbauten geprägt ist, sondern hauptsächlich von der Breite. Das passt zur antifeudalen Mentalität und Geschichte.

Was das zweitkleinste österreichische Bundesland ebenfalls etwas schweizerisch macht, ist ein ausgeprägterer Sinn für Subsidiarität, für den Staatsaufbau von unten nach oben. Man kann sogar den Namen dahingehend deuten: von oben, von der Bundeshauptstadt Wien aus gesehen liegt das Land ja hinter dem Arlberg, nur von der unteren Staatsebene, vom Bundesland selbst aus gesehen liegt es davor. Selbst innerhalb des Bundeslandes pochen die Menschen auf ihre Eigenständigkeit, die Walser, die Montafoner, die Bregenzerwälder, die Oberländer und die Unterländer.

Pflege der Wurzeln

Gelegentlich kann dieses Betonen der Eigenständigkeit bis fast zur Widerborstigkeit gehen. Doch letztlich stecken darin jenes Suchen nach Identität und jene Pflege der Wurzeln, die in Zeiten der Globalisierung besonders wichtig sind. Vorarlberg ist zwar auch darin übrigens der Schweiz ähnlich entgegen dem Selbstbild und dem Fremdbild ein besonders weltoffenes Land. Statistiken über Exporte, Emigranten, Grenzgänger und ausländische Wohnbevölkerung belegen es, der Blick über den Bodensee vom Pfänder ob Bregenz macht es erlebbar. Aber gerade in der globalisierten Welt brauchen die Menschen lokale Anker, emotionale Heimat. Vorarlberg versucht seit je diese schwierige Balance zwischen Offenheit und Identität zu leben nicht immer, aber alles in allem doch meist mit Erfolg.

Dieser Artikel erschien in der  «NZZ am Sonntag» vom 01. Dezember 2013.
Mit freundlicher Genehmigung der «NZZ am Sonntag».