Gerhard Schwarz  im «Thema Vorarlberg»-Interview über Österreichs unterentwickelten Föderalismus, bessere Bedingungen für Schweizer Unternehmen und den Wirtschaftsstandort Vorarlberg. Was sorgt den gebürtigen Vorarlberger und Wahl-Schwarzenberger an Österreich? «Die Bundespolitik.»

Thema Vorarlberg: Wie viel Staat muss sein, Herr Schwarz?

Gerhard Schwarz: So viel Staat wie nötig, aber so wenig Staat wie möglich. Aber das ist ein Allgemeinplatz. Ich würde sagen: In praktisch allen westlichen Industriestaaten weniger Staat, als wir heute haben.

Und wie sähe der ideale Staat aus Ihrer Sicht aus?

Der ideale Staat sollte seinen Bürgern einerseits Rechtssicherheit und Schutz vor unzulässigen Eingriffen anderer geben – was Eingriffe in die Freiheit verlangt –, andererseits aber so viele Entfaltungsmöglichkeiten wie nur möglich. Das ist eine schwierige Balance. In den vergangenen Jahrzehnten wurden Schutz, Sicherheit und soziale Absicherung immer weiter in den Vordergrund gestellt, auf Kosten der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten. Wir werden heute in allen Bereichen unseres Lebens von staatlichen Regulierungen massiv eingeengt. Übrigens: Wenn der Staat schon Dinge regelt – und das muss er tun –, sollte er es unbedingt in Form von Verboten und niemals in Form von Geboten tun. Das ist essenziell.

Zum Leidwesen der hiesigen Unternehmer und im Gegensatz zur Schweiz ist Österreich überbürokratisiert.

In der Schweiz ist es für die Unternehmen wohl tatsächlich um einiges einfacher. Vor allem der Umgang mit den Steuerbehörden ist völlig anders. Während sich das Finanzamt in der Schweiz als Dienstleistungsbetrieb versteht, ist in Österreich das Verhältnis des Finanzamts zum Bürger ein obrigkeitsstaatliches. Das österreichische System ist von Steuerdruck und Belastung geprägt.

Welche österreichische Entwicklung sorgt Sie besonders?

Die Bundespolitik. Österreichs einstige Großparteien verlieren seit Jahren immer mehr Vertrauen und Unterstützung und klammern sich umso mehr an die Regierungsmacht, ohne wirkliche Reformen vorzunehmen. Was mir als gebürtigem Vorarlberger und von der Schweiz aus gesehen als besonderes Manko erscheint, ist die viel zu geringe Dezentralisierung in Österreich. Der Föderalismus in Österreich ist vollkommen unterentwickelt. So, wie der Föderalismus in Österreich praktiziert wird, ist er eine Geldvernichtungsmaschine. Ein sinnvoller Finanzföderalismus würde dagegen zu einer wesentlich höheren Identifikation des Bürgers mit dem Staat und längerfristig auch zu einem haushälterischen Umgang mit den Mitteln führen.

Da ist man in Ostösterreich anderer Meinung …

Föderalismus reduziert das Schadens­potenzial von Fehlentscheidungen. Menschen können irren, und auch Regierungen können irren. Es ist logisch, dass Fehlentscheide gravierendere Folgen haben, wenn sie große Gebiete und viele Menschen betreffen, als wenn sie nur kleine Gebiete betreffen. In zentralistischen Staaten betreffen die Fehler das ganze Land. Macht dagegen in einem föderalistischen Land ein Kanton oder Bundesland einen Fehler, betrifft das nur diesen Teil des Landes, und die Chance ist groß, dass andere Gliedstaaten anders – sprich: besser – entscheiden. Föderalismus ist eine Form des permanenten Suchens nach der besten Lösung, es ist kein Prozess, der irgendwann einmal abgeschlossen ist, weder in der Politik noch in der Gesellschaft.

Immer mehr Landeshauptleute können sich – nach dem Vorbild der Schweizer Kantone – für eine eigene Steuerhoheit der Bundes­länder bei Massensteuern erwärmen.

Eine eigene Steuerhoheit wäre für Vorarlberg gut, und sie wäre auch für alle anderen Bundesländer gut, selbst für jene, die ein weniger hohes Steueraufkommen erreichen. Warum? Weil sich jedes Bundesland anstrengen würde, mit attraktiven Angeboten Unternehmen und Privatpersonen anzuziehen, die dann umgekehrt mit ihren Steuern wieder dazu beitragen würden, dass sich die Re­gion weiterentwickelt. Das ist der Sinn des Wettbewerbs in der Wirtschaft und in der Politik: dass man sich anstrengt, weil sich alle anderen anstrengen. Allerdings braucht es im Steuerwettbewerb auch einen gewissen Finanzausgleich unter den Bundesländern; er sollte die natürlichen Nachteile der verschiedenen Bundesländer etwas ausgleichen. Dieser Finanzausgleich ist idealerweise so zu gestalten, dass ressourcenschwache Regionen nicht völlig verarmen, dass sie aber gleichzeitig nicht dazu verleitet werden, sich überhaupt nicht mehr anzustrengen, weil die Mittel aus dem Finanzausgleich zu großzügig fließen. Es ist wie in der Sozialpolitik: Sie soll verhindern, dass Menschen durch das soziale Netz fallen, aber ebenso verhindern, dass das soziale Netz als Hängematte missbraucht wird. Dezentrale Steuerhoheit und Steuerwettbewerb sind also kein Gegensatz zu Solidarität und Zusammengehörigkeit.

Vermögenssteuern werden immer wieder kontrovers diskutiert in Österreich …

Also, wenn man schon meint, man müsse das Vermögen besteuern, dann doch lieber in Form einer maßvollen Erbschaftssteuer als in Form einer Vermögenssteuer. Wobei in beiden Fällen gilt, dass hier etwas, das schon einmal besteuert wurde, nämlich als Einkommen, ein zweites Mal besteuert wird – und das bei der Vermögenssteuer auch noch jährlich wiederkehrend. Das ist stoßend. Überhaupt wäre es am besten, wenn sich Staaten nicht allzu viele unterschiedliche Steuern ausdenken würden. Die Steuervielfalt führt letztlich mit ihrer Unübersichtlichkeit und dem bürokratischen Aufwand zu Effizienzverlusten, und sie wirkt einfach auch demotivierend. Mein Ideal sieht so aus: Es gibt keinen Abzug der Steuer an der Quelle, sondern jeder muss eine Steuer­erklärung ausfüllen und Steuern zahlen. Aber die Steuererklärung ist so einfach, dass sie auf einem A4-Blatt Platz findet, dass man sie in kurzer Zeit ausgefüllt hat und dass Steuerberater für Privatpersonen und Kleinstbetriebe überflüssig werden – wenig Steuern und praktisch keine Abzüge statt des heutigen Dschungels.

Österreich hat ein Ausgabenproblem, kein Einnahmenproblem, sagt Neo-Finanzminister Schelling.

Das ist keine besondere Erkenntnis. Auf eine gewisse Weise haben alle Staaten dieses Problem. Sie leben über ihre Verhältnisse und hinterlassen der nächsten Generation riesige Schuldenberge. Die Frage ist, welche Ausgaben gekürzt werden sollen, um endlich Schulden abbauen und auch Steuern senken zu können. In der politischen Debatte sind für die linken Staatsgläubigen Steuersenkungen immer ein rotes Tuch, weil sie das Gefühl haben, dass von Steuersenkungen nur die Wohlhabenden profitieren würden. Dabei ist es ja logisch, dass bei Steuersenkungen jene am meisten entlastet werden, die heute am meisten Steuern zahlen. So soll es auch sein. Und man muss klarmachen, dass es in jedem Haushalt Ausgaben gibt, die sehr wohl gekürzt werden könnten, ohne dass Qualität und Leistung groß darunter leiden würden. Wenn Steuersenkungen die Folge eines gestrafften, effizienteren, zielgerichteten Staatshaushalts sind, werden sie nicht als Steuergeschenke (ohnehin ein Unwort, weil man nur schenken kann, was einem gehört) wahrgenommen, sondern als vernünftiges Pendant zu einem haushälterischen Gebaren des Staates. Und wenn Steuersenkungen die Wirtschaft, vor allem Investitionen, beleben, profitieren am Schluss ohnehin alle davon.

Sie entwickeln mit der Denkfabrik «Avenir Suisse» Ideen, was die Schweiz besser machen könnte. Sind einige der Ideen auch auf Österreich ableitbar?

Auch wenn wir uns sehr auf die Schweizer Besonderheiten fokussieren, lässt sich einiges auf Österreich übertragen. Ein Beispiel ist die Zukunft der Lehre.
Die duale Bildung ist eine große Stärke beider Länder. Aber die Lehre muss modernisiert werden. Wenn man die Lehre als Zukunftsmodell erhalten will, muss sie in mehr Berufen als bisher um Fremdsprachenkenntnisse bereichert werden. Die Berufsbilder müssen breiter werden, sie dürfen nicht so enggefasst bleiben. Und der Anteil an schulischer Ausbildung muss steigen. Die Steuersysteme sind so enorm unterschiedlich, dass man kaum etwas übertragen kann – außer der schon erwähnten Vereinfachung. Das gäbe einen unglaublichen Dynamisierungsschub. Was brauchen wir etwa mehrere Sätze bei der Mehrwertsteuer? Ein einheitlicher Satz wäre viele vernünftiger. Schließlich: In beiden Ländern ist der Verkehr viel zu billig, der öffentliche und der private. Statt der Nutzer zahlen die Steuerzahler, das setzt falsche Anreize und führt zu Überkonsum.

Was ist, in wirtschaftlicher Hinsicht, Vorarlbergs größte Stärke?

Ein wesentliches Element ist die Offenheit dieses Landes. Vorarlberg grenzt an die Schweiz und an Deutschland – vor allem in der Zeit des Kalten Kriegs war die Nähe zu diesen zwei dynamischen Nachbarländern wesentlich, während ja der Osten Österreichs durch den eisernen Vorhang abgeschottet war. Diese Offenheit, das Erlebnis der Grenzüberschreitung, prägt auch heute noch die wirtschaftliche Mentalität Vorarlbergs. Zudem erleichtert die Kleinheit des Landes vieles. In diesem Sinn ist small beautiful – und successful. Man kennt sich, es gibt kurze Wege zwischen der Politik und der Wirtschaft, auch in der Wirtschaft untereinander. Und schließlich ist wesentlich, dass Vorarlberg im 19. Jahrhundert ein armes, karges Land war. Man musste sich also anstrengen, um es zu etwas zu bringen. Auch das ist eine Quelle des heutigen Wohlstands – dieser Wille, sich anzustrengen und die Dinge gut zu machen, ist ein bisschen in den genetischen Code der Vorarlberger übergegangen.

Und welche Schwäche Vorarlbergs sehen Sie?

Kleinheit und Vernetzung führen natürlich gelegentlich auch zu unsauberen Abläufen und Strukturen. Eine Hand wäscht die andere, auch dort, wo sich das nicht gehören würde. Wir sprechen in der Schweiz in diesem Zusammenhang von Filz. Möglicherweise ist es auch ein Nachteil, dass sich Vorarlberg in vielem in ein politisches System einordnen muss, das nicht unbedingt dem Selbstverständnis des Landes entspricht. So, wie die Vorarlberger politisieren und geschäften, kommen sie in Österreich manchmal etwas unter die Räder.

Welche Gefahren orten Sie in Bezug auf den Vorarlberger Wirtschaftsstandort?

Vorarlberg profitiert von der Nichtzugehörigkeit der Schweiz zur EU. Das gibt Vorarlberg eine zusätzliche Attraktivität, man kann von Vorarlberg aus die Schweiz betreuen, umgekehrt gehen Schweizer Firmen mit Filialen über die Grenze, um am EU-Markt teilzuhaben. Nach dem Nein zur Masseneinwanderung haben sich die Schweizer Perspektiven allerdings etwas verdüstert. Und das könnte sich auch auf Vorarlberg niederschlagen. Noch ist nicht klar, wie die Grenzgänger-Lösung aussehen wird. Meiner Ansicht nach sollten die Grenzgänger Teil der Lösung und nicht Teil des Problems sein. Aber es ist noch nicht sicher, dass die Schweizer Bundesbehörden das auch so sehen. Andere Gefahren? Ich habe das Gefühl, dass Vorarlberg im Verkehr erstickt und in diesem Bereich noch nicht weit genug ist, im öffentlichen Verkehr nicht, auch im grenzüberschreitenden Verkehr nicht. Und man wird sich fragen müssen, ob der Wintertourismus auch in 15, 20 Jahren noch im heutigen Ausmaß Bestand haben wird – oder ob nicht der Höhepunkt schon ein bisschen überschritten worden ist.

Dieses Interview erschien in «thema Vorarlberg», der Zeitung der Wirtschaftskammer Voralberg, vom 3. Oktober 2014.
Mit freundlicher Genehmigung von «thema Vorarlberg».