Was hält eine Gesellschaft zusammen? Es sind gemeinsame Interessen, gemeinsame Wurzeln, aber auch gemeinsame Wertvorstellungen. Zahlreiche Untersuchungen aus Deutschland – für die Schweiz liegen leider kaum Langzeitergebnisse vor – zeigen, dass sich diese Wertvorstellungen gewandelt und über die Jahrzehnte im gängigen Schema nach links verschoben haben. Ein Beispiel ist die in der Grafik präsentierte Analyse des Instituts für Demoskopie in Allensbach: Hielten sich lange Jahre jene, die in einer Gesellschaft ohne Arme und Reiche leben möchten, und jene, die das lieber nicht möchten, die Waage, ja gab es sogar Phasen, in denen die Gleichheitsfanatiker in der Minderzahl waren, dominieren seit etwa Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts die Freunde einer egalitären Gesellschaft eindeutig, mit etwa 20 Prozentpunkten Vorsprung.
Heikle Besitzstandswahrung
Ein Teil hat mit der Integration Ostdeutschlands zu tun, doch weisen auch andere Studien in eine ähnliche Richtung. So zeigt eine Umfrage des deutschen Bankenverbandes, dass die Soziale Marktwirtschaft heute viel weniger Zustimmung findet als früher. Schon vor einigen Jahren hat eine Untersuchung der Friedrich-A.-von-Hayek- Gesellschaft gezeigt, dass der Wert der Freiheit im Gegensatz zu jenem der Gleichheit in Deutschland am Sinken ist. Bei allen Unterschieden dürften die Entwicklungen in der Schweiz tendenziell in eine ähnliche Richtung gehen. Der Verlust an Wählergunst der FDP ist dafür nur ein Indiz unter mehreren.
Dieser Befund ist für alle beunruhigend, die überzeugt sind, dass eine freiheitliche Ordnung menschengerechter und wohlstandsfördernder ist als jegliche denkbare Alternative. Über die Gründe für diese zunehmende Geringschätzung des Werts der Freiheit in breiten Kreisen der Bevölkerung kann man nur spekulieren.
Eine zentrale Ursache dürfte darin zu suchen sein, dass bei wachsendem Wohlstand und zunehmender Gewöhnung an den Wohlstand die Besitzstandwahrung immer wichtiger wird. Man will das, was man erreicht hat, nicht verlieren. Freiheit und Marktwirtschaft versprechen wachsenden Wohlstand, sie verlangen aber gleichzeitig immer wieder Strukturwandel, sie produzieren damit wirtschaftliche Gewinner und Verlierer, und sie führen notwendigerweise zu Ungleichheiten der Einkommen und der Vermögen. Wenn es fast allen gleich schlecht geht, etwa in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, ist eine solche Ordnung ein Versprechen für alle und solange alle reicher werden, nur einige etwas schneller, stört das niemanden. Je mehr man hat, desto mehr zählt dagegen die Sicherheit, und wenn die Dynamik nachlässt, werden die Unterschiede wohl stärker empfunden.
Deshalb rächt sich nun, dass gerade auch Liberale die Marktwirtschaft und die freie Ordnung zu wenig um ihrer selbst willen propagiert haben, sondern zu sehr als Wohlstandsmaschine. Dabei bietet eine freiheitliche Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung viel mehr als nur materiellen Wohlstand und Wachstumsdynamik, sie gewährleistet nämlich Vielfalt und damit Wahlmöglichkeiten, sie bewährt sich als Entdeckungsverfahren, lässt also Experimente zu und führt damit zu Fortschritt, und sie bringt Zukunftsoffenheit in eine Gesellschaft.
Ausserdem ist in der Vergangenheit der Begriff der Freiheit wohl zu wenig mit Inhalt gefüllt worden, in der Theorie, vor allem aber in der gelebten Wirklichkeit. Er bedeutet eben mehr als einfach die Freiheit vor dem willkürlichen Zugriff anderer ebenso wie des Staates. Er bedeutet gewiss die Gleichheit vor dem Gesetz und die gleiche Würde aller, er bedeutet aber auch Selbstverantwortung statt staatlichen Paternalismus, Sinn für das Mass bei jedem Einzelnen statt von oben verordnetes Wohlverhalten, Haftung für sein Tun statt Staatsgarantien und Überwälzung externer Effekte auf Dritte sowie konsequenten Schutz des Privateigentums statt schleichende Aushöhlung durch Regulierung, Steuern und Inflation.
Gleichheit ist unfrei
Schliesslich ist es den Gegnern der Freiheitzunehmend gelungen, ökonomische Gleichheit als Gerechtigkeit zu «verkaufen». Das war so erfolgreich, dass man kaum mehr Liberale findet, die sich zwar für gezielte Hilfe an alle, die sich nicht aus eigener Kraft helfen können, einsetzen, aber zugleich doch den Mut haben, offen zur Ungleichheit zu stehen die also klarmachen, dass Freiheit und Gleichheit Antagonismen sind und dass man Freiheit nur um den Preis der Ungleichheit bzw. Gleichheit nur um den Preis der Unfreiheit haben kann und dass Freiheit dem Menschen mehr entspricht als Gleichmacherei. Dass das Streben nach Gleichheit in Stagnation und in Totalitarismus münden muss, haben schon Karl Popper und Ralf Dahrendorf gezeigt. Man sollte es in Zeiten eines Hangs zur Egalität wieder mehr betonen.
Und erst recht sollte man in Zukunft den langfristigen Charakter des freiheitlichen Projekts hervorheben, vor allem, dass, wenn man sich der Freiheit verpflichtet, es mit der Zeit nach Theorie und Erfahrung allen in einer Gesellschaft besser geht, aber dass der Weg dorthin eine holprige Strasse ist. Vielleicht gewinnt die Wertschätzung der Freiheit so wieder die Oberhand: wenn erkannt wird, dass ohne Anstrengungen zur Steigerung des Wohlstands langsam, aber sicher auch der vermeintlich sichere Besitzstand gefährdet ist, wenn der Wert der Freiheit über das rein Ökonomische hinaus sichtbar wird, wenn wesentliche Aspekte der Freiheit wie Haftung und Selbstverantwortung wieder gelebt werden und wenn endlich die Gleichsetzung des Strebens nach Gerechtigkeit mit einer Angleichung von Einkommen und Vermögen als Falschmünzerei entlarvt wird.
Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 25. Juni 2011.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.