Auf über 300 Seiten unterzieht die liberale Denkfabrik «Avenir Suisse» die staatliche Grundversorgung einer Fundamentalkritik. Nachzulesen im neuen Buch «Mehr Markt für den Service public», welches die Schwächen der Liberalisierungsbemühungen schonungslos aufzeigt. Der Begriff Grundversorgung werde heute überstrapaziert, sagt Co-Autor Urs Meister: «Unter dem Deckmantel des Service public betreibt der Staat immer mehr Umverteilung und Regionalförderung, selbst in den dicht besiedelten Zentren.»

Gegen ein Giesskannenprinzip

Für beide Ziele gebe es jedoch bessere Instrumente. Randregionen unter die Arme zu greifen, dafür sei der Finanzausgleich da, den es «gegebenenfalls» gar zu stärken gelte: «Dieser Finanzausgleich verteilt die Mittel bedarfsgerecht. » Jede strukturschwache Region hat die Wahl, wie sie die Gelder investieren möchte – ob in ein neues Altersheim oder eine Anbindung ans Glasfasemetz. Bei Service-public-Angeboten wie einem flächendeckenden Poststellennetz gelte dagegen das Giesskannenprinzip. Also zweckgebunden und nicht verursachergerecht. Auch für die Einkommensumverteilung tauge der Service public nicht. Dort sei der Effekt oftmals gegenteilig. Indem beispielsweise bessere öV-Anbindungen – vor allem in den Agglomerationen – die Bodenpreise in die Höhe schnellen lassen. «Das freut in erster Linie die Grundeigentümer», sagt Urs Meister. Pendler würden dagegen mit höheren Mieten oder Baulandpreisen belastet. «Es ist extrem schwierig zu sagen, wer letztlich bevorteilt wird und wer nicht», sagt Meister. Dies gilt auch für die Tarifierung. Beispiel Wasserversorgung: Von tieferen Wasserzinsen profitieren in erster Linie nicht die schwächeren Haushalte. Denn der Wasserkonsum ist sehr stark einkommensabhängig. Man denke an Swimmingpools und ausladende Gärten. Meister kommt zum Schluss: «Einkommensumverteilung sollte über progressive Steuern geschehen.» Weiter zeigt das Avenir-Suisse- Buch Eigentumsverfiechtungen und Rollenkonflikte auf, in denen die öffentliche Hand steckt. Beispiel Gesundheitswesen, wo der Staat Financier für neue Standorte und Marktakteur ist, in dem er eigene Spitäler unterhält. Und als Regulator die Markteintrittsbarrieren definiert.

Für mehr Preistransparenz

Diese sich widerstreitenden Aufgaben sind auch Ausdruck einer verfehlten Marktöffnung: Die Liberalisierung sei in vielen Bereichen auf halbem Weg stecken geblieben, kritisiert Meister: Politische Partikularinteressen würden überwiegen: «Wenn die öffentliche Hand auch am Markt teilnimmt, ist die Lust an echtem Wettbewerb zumeist wenig ausgeprägt». Beispiel Strommarktliberalisierung: Bei der Netzregulierung war man überaus produzentenfreundlich. Beim Strombezug dagedagegen äusserst konsumentenfreundlich – mit Stromtarifen zu Gestehungskosten statt zu Marktpreisen. Die Denkfabrik plädiert deshalb für mehr Preistransparenz, indem die Kosten für Dienstleistungen die Bedingungen in den einzelnen (Rand-)Regionen auch tatsächlich abbilden. Wo bleibt da der Service public? Viele dieser Leistungen würden auch ohne Subventionen erbracht. Eine öffentliche Finanzierung wäre nur dort nötig, wo der Markt nicht spielt und die Gesellschaft diese Leistung auch wirklich nachfragt. Die Probe aufs Exempel sei die Ausschreibung, sagt Meister: «In vielen Infrastrukturbereichen haben wir einfach zu wenig wettbewerbliche Ausschreibungen.» Beispielsweise für Streckenabschnitte im öV. Ist der Service public aber gewünscht, dann soll er klar und transparent finanziert sein, nämlich möglichst nahe am Nutzer. Und ohne Input-orientierte Grundversorgungsaufträge oder Wettbewerbsausnahmen wie dem Briefmonopol. Doch die Preis- und damit Wettbewerbstransparenz wird durch das heutige Regime ad absurdum geführt: «Jede Subvention an eine öffentliche Unternehmung ist in der Schweiz grundsätzlich erlaubt, auch wenn sie den Wettbewerb verfälscht», sagt Meister. Dies im Gegensatz zur EU, wo ein Beihilferecht existiert.

Stromversorger

Die Marktöffnung ist auf halbem Wege stecken geblieben. Beispiel Netztarife: Fast die Hälfte der Stromkosten für Privatkunden entfallen aufs Verteilnetz. Die Branche der kommunalen Versorgungsunternehmen ist extrem fragmentiert. Knapp 750 gibt es in der Schweiz, in Deutschland sind es bloss 950. Eine Konsolidierung tut not. Auch weil die Tarifspanne riesig ist, denn die kostenbasierte Regulierung der Netztarife verhindert Wettbewerb. Die Anreize für Effizienzverbesserungen sind gering. Beispiel Netzregulierung: Damit der Markt spielen kann, müssen Netzbetreiber und Energieproduzenten bzw. Stromhändler rechtlich strikte getrennt werden. Ansonsten droht die Gefahr eines Informationsmissbrauchs zugunsten integrierter Akteure. Doch Svvissgrid als nationale Übertragungsnetzbetreiberin ist im Eigentum der Stromkonzerne und damit der öffentlichen Hand. Dies widerspricht den europäischen Standards: «Die minimalen Unabhängigkeitsanforderungen, wie sie im Rahmen des dritten EU-Energiebinnenmarktpakets festgelegt wurden, erfüllen die Schweizer Regelungen nicht.»

Telekomanbieter

Die Preise sind im europäischen Vergleich hoch, die Marktdynamik gering. Dies das ernüchternde Fazit der 1998 eingeleiteten Liberalisierung des Telekommarktes. Auch steigt der Marktanteil des Ex-Monopolisten Svvisscom seit Jahren stetig an. Dabei steht der Bund als Mehrheitseigner und Regulator in einem Rollenkonflikt. Mit dem Glasfaserausbau drängen nun auch die städtischen Elektrizitätswerke (EW) in Kooperation mit der Svvisscom in den Markt. Dies unter der Prämisse, einen Infrastrukturwettbewerb möglich zu machen. Doch: «Aus ordnungspolitischer Sicht lässt sich ein staatliches Engagement nicht begründen. Die ultraschnellen Breitbandleitungen sind kein öffentliches Gut.» Gerade in den Ballungszentren rentiert die Glasfaser auch ohne öffentliche Hand. Zumal die Gefahr besteht, dass die EW ihre Telekomsparte dereinst aus dem Stromgeschäft quersubventionieren. Oder dass die Svvisscom beim Bau durch die EW subventioniert wird. «Schliesslich wurde der Telekommarkt liberalisiert, die öffentliche Hand sollte darin keine Rolle als Investor einnehmen.»

Radio  und TV

Bei der Einführung von Radio und Fernsehen im 20. Jahrhundert dominierte die analoge Übertragungstechnik. Die verfügbaren Frequenzen waren knapp. Um dennoch eine Vielfalt des Sendeprogramms zu garantieren, schuf der Staat öffentliche, gebührenfinanzierte Anstalten. Mit den digitalen Übertragungstechniken herrscht keine Frequenzknappheit mehr. Heute wird der mediale Service public mit Qualitätsargumenten verteidigt. Heiss debattiert wird derzeit, ob die SRG auch im Internet Werbung schalten darf. Avenir Suisse schlägt nun vor, dass sich die Radio- und Fernsehgesellschaft künftig als reiner Content-Provider, der Service- public-Inhalte herstellt, positioniert. Diese Beiträge würden dann (privaten) Plattformbetreibern kostendeckend zur Verfügung gestellt. Ohne eigene technische Verbreitungsplattform wäre die SRG auf ihren Kernauftrag zurückgebunden und könnte keine Zusatzdienste wie Online-Games oder interaktive Diskussionsplattformen anbieten. «Damit würde das aus vvettbevverblicher Sicht besonders kritische Online-Angebot der SRG automatisch beschränkt.»

Postunternehmen

Die 2010 revidierte Postgesetzgebung hält am Grundversorgungsauftrag und den Universaldiensten für den Gelben Riesen fest. Das heisst: Adäquates Netz von Poststellen, Pflicht zum Transport von Postsendungen. Und im Gegenzug für detaillierte Auflagen: Das Restmonopol für Briefe bis 50 Gramm. Deren Tarife wiederum sind unabhängig von der Zustelldistanz festgelegt. Gerade dieses Restmonopol verzerrt jedoch den Wettbewerb: «Die Post stellt beispielsweise aufgrund des Service public ein dichteres Poststellennetz bereit, als dies betriebswirtschaftlich notwendig wäre.» Die Kosten hierfür werden den Tarifen im Restmonopol belastet, während auch die im Wettbewerb stehenden Produkte davon profitieren. Avenir Suisse plädiert deshalb dafür, die Post vom Grundversorgungsauftrag zu entbinden. Die Gefahr, dass in den Randregionen keine Briefe mehr zugestellt würden, sieht der Think-Tank nicht: Denn: «Jeder Grosskunde verlangt eine landesweite Zustellung.» Allerdings würden in der Peripherie wohl die Poststellen reduziert und die Briefe vermehrt elektronisch zugestellt.

Dieser Artikel erschien in der «Aargauer Zeitung» vom 24. Februar 2012.