Eine beliebte These in der laufenden Debatte über Zuwanderung lautet, das Wachstum der Schweizer Volkswirtschaft in den letzten Jahren beruhe hauptsächlich auf dem Bevölkerungswachstum und habe die ursprüngliche Bevölkerung kaum reicher gemacht und einzig die Umwelt belastet. Sieht man sich die Fakten an, entdeckt man, dass einiges von dieser These weit übertrieben oder falsch ist, anderes auch völlig anders interpretiert werden kann.
Aufschwung mit Zuwanderung
So muss man klar zwischen den 1990er Jahren und dem ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends unterscheiden. Die neunziger Jahre waren für die Schweiz in Sachen Wachstum tatsächlich verloren. Das gesamtwirtschaftliche Wachstum lag deutlich unter jenem Deutschlands und Österreichs, ebenso jenes des Bruttoinlandprodukts (BIP) pro Kopf, das in der Schweiz praktisch stagnierte. Völlig anders sieht es aber in den letzten zehn Jahren aus. Gesamthaft wuchs das Land nun deutlich stärker als Deutschland und ähnlich wie Österreich, pro Kopf etwa gleich wie Deutschland und etwas weniger als Österreich. Andere Kennzahlen, etwa das BIP pro Arbeitsstunde (die Schweizer arbeiten mehr als die Deutschen) oder das BIP pro Beschäftigten (die Arbeitslosigkeit ist in der Schweiz am niedrigsten), ergeben kein anderes Bild: Die neunziger Jahre haben der Schweiz kaum einen Wohlstandszuwachs gebracht, in den letzten zehn Jahren konnte sie dagegen gut mit den Vergleichsländern mithalten.
Genau diese letzten zehn Jahre waren aber jene des starken Zustroms von Ausländern. Während die Bevölkerung in der Schweiz in den neunziger Jahren mit rund 5% weniger zugenommen hat als in Österreich und vor allem in Deutschland, wo sie wegen der Wiedervereinigung geradezu explodiert ist, wuchs sie in den letzten zehn Jahren mit 8% deutlich stärker als in Österreich (ungefähr 3%) und Deutschland, wo sie sogar leicht zurückging. Wenn man also einen Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Wohlstandsentwicklung herstellen möchte, müsste man eher konstatieren, dass in dem Jahrzehnt, in dem die Schweizer Wohnbevölkerung weniger gewachsen ist als die deutsche oder die österreichische, das Durchschnittseinkommen praktisch stagniert hat und dass es seither ähnlich stark gestiegen ist wie in diesen Ländern aber dass damit eine starke Zuwanderung einherging.
Ist der Wohlstandsgewinn also mit Zuwanderung erkauft? Zumindest teilweise gewiss, denn die Schweiz bewegt sich einkommensmässig auf höchstem Niveau, ist deutlich reicher als die Nachbarn. Dieses Niveau zu halten und zu steigern, ist nur mit einer hochentwickelten Wirtschaft möglich, die Spezialisten verlangt, welche in der Schweiz nicht in genügendem Mass vorhanden sind. Um das nötige Bildungsniveau zu erreichen und um Flaschenhälse zu beseitigen, von denen ganze Wertschöpfungsketten abhängen, braucht die Schweiz ausländische Arbeitskräfte.
Grossartige Leistung
Klar ist auch, dass das hohe Wohlstandsniveau in der Schweiz schwieriger zu steigern ist als das um einiges niedrigere Deutschlands und Österreichs. Etwas kleinere Wachstumsraten sind da kein Zeichen von Schwäche. Deswegen ist die teilweise Parallelität von BIP Wachstum und Bevölkerungswachstum nicht eine Art vergebliche Liebesmüh, sondern eine grossartige Leistung: Während jährlich Zigtausende neue Bewohner ins Land strömen, gelingt es der Volkswirtschaft, die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung so zu steigern, dass die Wohnbevölkerung auch unter Einbezug der Zugewanderten weiterhin zu den reichsten der Welt zählt und der Wohlstand noch weiter wächst. Besonders deutlich zeigt dies eine Betrachtung der längeren Frist. Nimmt man die Mitte der fünfziger Jahre zum Ausgangspunkt, ist die Schweizer Bevölkerung seither prozentual so stark gewachsen wie jene Deutschlands. Beide Länder weisen heute eine um etwa 55% höhere Bevölkerungszahl auf als in der Nachkriegszeit, Deutschland hauptsächlich durch die Einberechnung der DDR, die Schweiz dank Zuwanderung. Die Schweiz hat mit anderen Worten über die Jahre hinweg also weniger schockartig prozentual ungefähr gleich viele Menschen zusätzlich «verkraftet» bzw. in Arbeit und Brot gebracht wie Deutschland mit der Wiedervereinigung nur ohne entsprechenden Flächenzuwachs und zudem auf einem der höchsten Wohlstandsniveaus der Welt.
Einseitige Wachstumskritik
In eine ähnliche Richtung muss man das Umweltargument, das gerne gegen die Einwanderung ins Feld geführt wird, relativieren. Zwar bedeutet Zuwanderung zusätzlichen Ressourcenverbrauch im Einwanderungsland, aber die Zugewanderten, zumal die hochqualifizierten, würden auch in ihrer Heimat Energie und Rohstoffe konsumieren und CO2 produzieren, und das, weil die Schweiz besonders energieeffizient und umweltbewusst ist, wohl in höherem Masse. Die globale Umwelt nimmt also durch die Zuwanderung keinen Schaden.
Einzig der zunehmende Landverbrauch in einem ohnehin dichtbesiedelten Land stellt eine Herausforderung dar. Er gehört zu jenen Preisen, die wir für wachsenden Wohlstand, technologischen Fortschritt und hohe Qualität etwa des Gesundheits-, Pflege- und Bildungssektors bezahlen. Mehr städtische Dichte, weniger Zersiedelung und dass wir unseren wachsenden Wohlstand nicht für ständig noch mehr Wohnfläche pro Kopf nutzen all das liesse sich aber mit einer griffigen Raumplanung und Bauordnung, vor allem aber dem Beseitigen all der Fehlanreize auf dem Wohnungsmarkt (die von nicht marktgerechten Mieten über zu billige Mobilität bis hin zu Handänderungssteuern reichen) auch bei wachsender Bevölkerung erreichen. Und das muss erreicht werden, wollen wir die Schweiz in ihren Qualitäten bewahren, aber nicht auf Erneuerung und Dynamik verzichten.
Erschienen in der "Neuen Zürcher Zeitung" am 28.05.2011. Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.