Der Aufstieg der Schweiz in den letzten beiden Jahrhunderten ist beeindruckend. Das einstige Armenhaus Europas schien durch nichts prädestiniert, dereinst zu den reichsten Ländern der Welt zu zählen. Aber zumal im Rückblick wird auch klar, dass es für diesen aussergewöhnlichen Weg zahlreiche Erklärungen gibt: Glückliche Zufälle gewiss, aber eben auch tüchtige, unternehmerische Menschen sowie politische und kulturelle Rahmenbedingungen, die diesem Unternehmertum und der Schaffung von Wohlstand Raum liessen. Entgegen dem Klischee ist das Land nicht hauptsächlich durch unsaubere Geschäfte vor allem von Banken reich geworden und produziert nebenbei noch etwas Käse und Uhren. Vielmehr haben Schweizer Firmen und Unternehmer im 19. und 20. Jahrhundert in fast allen der im jeweiligen Entwicklungsstand wegweisenden und innovativen Branchen vorne mitgemischt und entscheidende Beiträge geleistet. Die grösste Ausnahme von dieser «Regel» bildete vielleicht die Automobilindustrie.

Armut, ungünstiges Klima und Binnenlage – ein Segen

Fragt man nach den Erfolgsfaktoren der Zukunft, liegt es nahe, auf die Kernelemente des Wirtschaftswunders Schweiz in der Vergangenheit zu verweisen. Es sind meines Erachtens vor allem drei Kräfte, die den Erfolg der Schweiz erklären: Erstens erwiesen sich die Armut (an Bodenschätzen), das ungünstige Klima (in grossen Teilen des Landes) und die kontinentale Binnenlage als Segen und nicht als Fluch. Sie zwangen zu besonderer Anstrengung und führten zu einem anderen Verständnis von Wohlstand als in von der Natur begünstigten Gebieten. Zweitens machten Kleinheit und Vielfalt des Landes das Verständnis des Fremden sowie eine gewisse selektive Offenheit zur Notwendigkeit. Die Offenheit der Schweiz und ihrer Bewohner ist denn auch deutlich grösser als selbst in traditionellen Einwanderungsländern, vor allem aber grösser, als es dem Selbst- und dem Fremdbild entspricht. Drittens hat sich in der Schweiz eine einmalige Balance zwischen individueller Selbstverantwortung und genossenschaftlicher Solidarität entwickelt, die gewisse Übertreibungen des Sozialstaatsausbaus verhindert und doch dafür sorgt, dass es den untersten Einkommensschichten weniger schlecht geht als anderswo.

Man kann sich natürlich mit Fug fragen, ob das eher staatsskeptische, auf die spontane Ordnung vertrauende, von unten nach oben aufgebaute Modell der Schweizer Politik und Gesellschaft auch zukunftstauglich ist. Modisch ist es gewiss nicht, denn derzeit dominieren in den «alten» Industriestaaten zum Teil massive Staatsinterventionen und Rettungsschirme sowie der Hang zu einer globalen Regulierungsmaschinerie, mit der man die Grossprobleme dieser Welt in den Griff bekommen möchte. Und unter den aufstrebenden «neuen» Wirtschaftsmächten beeindruckt China mit seinem vordergründig erfolgreichen staatsdirigistischen Kapitalismus.

Je mehr aber der Druck zur Einbindung, zur Nivellierung und zur Top-Down-Kontrolle wächst, umso mehr ist nicht nur der relativ grosse wirtschaftliche Freiraum in der Schweiz bedroht, sondern auch das wirtschaftskulturelle Fundament, die Mentalität, die Herangehensweise an Probleme, die in der Vergangenheit Politik wie Wirtschaft des Landes ausgezeichnet und erfolgreich gemacht hat. Die Schweiz wird ihren Erfolg daher auch in Zukunft nicht in der Anpassung an den Zeitgeist suchen müssen, sondern in der Pflege der drei tragenden Pfeiler ihres Erfolgs – Leistungswilligkeit, Diversität und solidarische Selbstverantwortung – in einer schwierigeren Zeit.

Der Wohlstand, aber auch das Spannungsfeld zwischen dem hohen Lohnniveau im Finanzsektor und in der Realwirtschaft lassen eine Übersättigung, zunehmendes Besitzstanddenken, Rentnermentalität, Risikoaversion, die Erschlaffung unternehmerischer Kräfte und Innovationsschwäche befürchten. Deshalb muss die Steuerpolitik die monetären Anreize richtig setzen, aber auch die lähmende und hemmende Wirkung von vielen gut gemeinten Regulierungen bedenken. Unternehmertum, das Eingehen von Risiken mit eigenem Geld und technologische Innovation müssen nicht speziell gefördert werden, aber sie sollten in keiner Weise behindert werden.

Gefahr der vereinheitlichenden Tendenzen der Globalisierung

Auch Kleinheit und Vielfalt und die aus ihnen gewachsene selektive Offenheit sind in Gefahr. Da sind die vereinheitlichenden Tendenzen der Globalisierung in Sachen, Sprache, Kultur, Produkte, aber auch Mentalitäten und Lösungsansätze, da ist ebenso die Einbindung der Schweiz in immer mehr supranationale Strukturen und Institutionen. Die Schweiz muss weiterhin die heikle Gratwanderung zwischen Offenheit und Abschottung versuchen, die ihr bisher gar nicht so schlecht gelungen ist. Abschottung würde nicht nur bedeuten, der wichtigen wirtschaftlichen Impulse der Zuwanderung verlustig zu gehen, sie stellte auch eine kulturelle und geistige Verarmung dar. Völlige Offenheit wiederum hat nicht umsonst noch kein Land je praktiziert. Wenn Tempo und Ausmass der Zuwanderung zu gross werden und/oder die Zuwanderer keine ausreichende Assimilationsleistung erbringen, kommt es nicht nur zu Auswirkungen auf Wohnkosten und Wohnraum, auf Löhne und Berufslaufbahnen, die die Absorptionsfähigkeit der heimischen Bevölkerung übersteigen könnten. Es hat dies auch Auswirkungen auf die politischen Institutionen und die Identität, das Selbstverständnis des Landes.

Den sozialen Zusammenhalt von oben pflegen

Um eine kluge Balance geht es auch beim dritten Pfeiler des helvetischen Wirtschaftserfolgs. Die Schweiz war – und ist immer noch – weniger klassenkämpferisch als andere Länder, der soziale Zusammenhalt ist grösser. Doch dieses Gewebe ist in Gefahr, es hat längst Risse bekommen. Exemplarisch zeigt sich dies an der Debatte über die Spitzenlöhne von Managern. Lösungsmöglichkeiten sind hier besonders schwierig zu finden. Einerseits sollte das Gleichgewicht zwischen Selbstverantwortung und Solidarität dadurch verbessert werden, dass der Sozialstaat nicht weiter ausgebaut, sondern auf seinen Kern reduziert wird, damit auch in Zukunft den Schwachen und Bedürftigen noch in genügendem Mass geholfen werden kann. Das Leben über die Verhältnisse, das in der Verschuldung der öffentlichen Hände und der Sozialwerke zum Ausdruck kommt, wird irgendwann jene treffen, die der Hilfe bedürfen. Noch wichtiger wäre aber anderseits, dass der soziale Zusammenhalt von oben her gepflegt wird. Das Wissen, dass Reichtum verpflichtet und man Verantwortung trägt gegenüber der Gemeinschaft sollte bei den Spitzenkräften der Wirtschaft sicht- und spürbarer werden, als das der Fall ist.

Müsste ich unter den drei Erfolgsfaktoren der Schweiz den derzeit wichtigsten wählen, wäre es der soziale Zusammenhalt. Wenn er unter die Räder gerät, ist das Wirtschaftswunder Schweiz vermutlich noch mehr in Gefahr, als wenn die Leistungsbereitschaft etwas zurückgeht oder man bei der Offenheit zu sehr auf die eine oder andere Seite kippt. Oder sollte es nur sein, dass mir dieser Erfolgsfaktor derzeit einfach als besonders gefährdet erscheint?

Dieser Artikel erschien in der «Handelszeitung» am 19. Mai 2011.