Zuerst das eidgenössische Ja zur Minarettinitiative, jetzt das Zürcher Ja zu Mundart im Kindergarten. Will sich die Schweiz einigeln? Nein, darum gehe es nicht, sagt Avenir-Suisse-Direktor Gerhard Schwarz (60), sondern um Identität und Integration.

Gerhard Schwarz, muss man sich angesichts der Stimmung im Volk Sorgen machen, dass künftige Abstimmungen zur Personenfreizügigkeit negativ ausgehen? Mit allen Konsequenzen für unser Verhältnis zur EU?

Ich glaube nicht. Wenn es drauf ankommt, sind die Stimmbürger meist ziemlich vernünftig, wie die letzte Abstimmung zur erweiterten Personenfreizügigkeit 2009 gezeigt hat. Die Vorlage kam gut durch. Und die praktischen Folgen der Minarettinitiative und im Kindergarten sind begrenzt. An der Personenfreizügigkeit hingegen hängt sehr viel mehr, dessen ist sich das Volk bewusst.

Da vertrauen Sie fest drauf?

Eigentlich schon.

Einfach so?

Das nicht. Wichtig ist, mit Zahlen und Argumenten klare Botschaften zu vermitteln; besonders, wie sehr wir von der Zuwanderung profitieren. Aber wir sollten endlich aufhören, ihre Kosten zu negieren. So brauchen wir wegen der stark gewachsenen Bevölkerung mehr Infrastruktur.

Helfen Argumente und Zahlen gegen Bauchgefühle?

Ich versuche die Entwicklung immer mit konkreten Fragen zu illustrieren: Wie wäre es, wenn wir plötzlich die 3000 deutschen Ärzte nicht mehr bei uns hätten? Wie wäre es, wenn wir ohne all die Pflegerinnen und Pfleger aus dem Ausland auskommen müssten? Unser Gesundheitswesen stände ziemlich schnell vor einem Zusammenbruch.

Dennoch: Das Unbehagen scheint gross. Wie ist es dazu gekommen?

Die Bereitschaft der Bevölkerung, fremde Menschen aufzunehmen, hängt von der Menge ab und dem Tempo, in dem das passiert. Wir hatten tatsächlich eine starke Zuwanderung in den letzten Jahren. Damit wurde für viele zum Thema, wie wir unsere Identität sichern. Wir wollen Ausländer im Land, brauchen sie auch, aber sie sollen sich möglichst gut integrieren.

Die Abstimmungsergebnisse sind also kein Rückzugsreflex, sondern ein Korrekturversuch, wenn auch ein symbolischer?

Richtig. Es ist eine schwierige Gratwanderung, mit der nicht nur die Schweiz konfrontiert ist: Wie sorgt man dafür, dass die Fremden als Bereicherung empfunden werden, da sie etwas Neues bringen, aber dass gleichzeitig die Identität erhalten bleibt. Es gibt weltweit praktisch kein anderes Land, in dem so viele Einwohner im Ausland geboren sind wie in der Schweiz, rund 25 Prozent.

Hat die etablierte Politik da ein brisantes Thema verschlafen?

Ja. Ich habe nie verstanden, wie man die Sorge um Integration oder Überfremdung per se als etwas Dummes oder Fremdenfeindliches sehen kann. Wir müssen das Unbehagen ernst nehmen und versuchen, vernünftig damit umzugehen.

Was heisst das konkret?

Die Zuwanderung konzentriert sich auf zwei Grossregionen, die wirtschaftlich attraktiv sind: Zürich und Genf. Ich würde dort auf relativ starker Anpassung der Zugewanderten beharren, das scheint mir legitim. Das betrifft die Sprache, aber auch Umgangsformen in der Öffentlichkeit und in der Familie. Die Schweiz war schon immer offen für Zuwanderer, hat aber stets auch Integrationsleistungen erwartet. Das Buch, das ich vor Kurzem mit James Breiding publiziert habe, «Wirtschaftswunder Schweiz, Ursprung und Zukunft eines Erfolgsmodells », zeigt das an vielen Beispielen. Es waren oft Ausländer, die hinter der Gründung unserer Grosskonzerne standen, auf die wir heute so stolz sind.

Sind die heutigen Einwanderer so anders als jene von früher?

Früher waren die Einwanderer breiter im Land verteilt und kamen aus tieferen Schichten. Das hat vielleicht eher dazu geführt, dass sie sich eingeordnet haben. Heute kommen viele top ausgebildete Menschen, die in der Medizin oder an den Unis tätig sind. Da ist der Anpassungsdruck kleiner. Und neu fühlt sich nun auch der Mittelstand bedroht.

Und ja nicht zu Unrecht.

Im Einzelfall mag das so sein. Für einige sind die Sorge um Jobs und Karriere sehr real. In der Summe aber nützt uns die Zuwanderung mehr, als sie uns schadet.

Viele sehen das anders.

Avenir Suisse ist an einem Forschungsprojekt, mit dem wir herausfinden möchten, wie sehr der Druck real und wie weit er bloss gefühlt ist. Ich denke, es sind schon nicht nur Fantasien, eher vielleicht eine emotionale Verstärkung von etwas, das eine reale Basis hat. Wohnungen werden teurer, aber man hat das Gefühl, sie werden wahnsinnig viel teurer.

Aber das liegt ja nicht nur an der Zuwanderung.

Richtig. Es ist schliesslich kein gottgegebenes Menschenrecht, an bester Lage in der Stadt Zürich zu wohnen. Früher wollten alle raus aufs Land, jetzt wollen plötzlich alle wieder zurück in die Stadt.

Entsteht das Unbehagen auch, weil nicht alle profitiert haben?

Wir haben in den 1960er-Jahren zu den reichsten Ländern der Welt gehört, und wir tun das auch heute noch. Das ist eine grosse Leistung, von der auch die untersten Einkommensschichten profitiert haben. Zudem gibt es eine soziale Durchlässigkeit. Es sind nicht mehr die gleichen Leute in der untersten Einkommensschicht wie vor zehn Jahren. Warum sind wir denn ein Magnet für Ausländer? Weil die Schweiz ein Land ist, in dem es sich verdammt gut lebt.

Das Thema Einwanderung beschäftigt alle Länder des Westens, der Rechtspopulismus ist auf dem Vormarsch.

In vielen Ländern ist die Elite bezüglich Zuwanderung weiter gegangen, als die Mehrheit der Bevölkerung sich das wünscht. Dass nationaler denkende Parteien nun mehr Stimmen erhalten, gehört zum normalen politischen Prozess, der in der Regel zu einem Kompromiss führt. Das ist ja der Sinn der Demokratie, dass das Unbehagen der Bevölkerung in die Meinungsbildung einfliesst.

Man muss sich also keine Sorgen machen über das Erstarken dieser Parteien?

Vielleicht ist die europäische Freizügigkeitsidee zu schnell zu weit gegangen, und nun schlägt das Pendel zurück. Aber kaum gleich ins andere Extrem. Auch hier handelt es sich um einen Korrekturversuch.

Dieses Interview erschien im Mirgos Magazin vom 23. Mai 2011