Seit Mitte des letzten Jahrzehnts weist die Schweiz im historischen wie auch im internationalen Vergleich ein überdurchschnittliches Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) auf. Dabei deutet einiges auf eine Zunahme des Potenzialwachstums hin. Das Wirtschaftswachstum ist in der Schweiz sehr arbeitsintensiv, was sich einerseits in einem vergleichsweise geringen Niveau und Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität, anderseits in einer tiefen Arbeitslosigkeit und hohen Arbeitsmarktpartizipation niederschlägt. Das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der Europäischen Union bildet eine wichtige Voraussetzung für dieses spezifisch schweizerische Wachstumsregime.

Die Zunahme des Wohlstandes in der Schweiz beruht auf einem überdurchschnittlich arbeitsintensiven Wirtschaftswachstum. Während in der Nachkriegszeit bis 1973 ein Zuwachs des BIP um 1% im Jahresdurchschnitt mit einem Anstieg der Erwerbstätigkeit um knapp 0,4% einherging (im Vergleich dazu: BE 0,1; F 0,1; DE 0,2; NL 0,2; UK 0,2; USA 0,4), waren es seit 1973 0,6% (BE 0,2; F 0,2; DE 0,2; NL 0,5; UK 0,1; USA 0,5). Die Arbeitsintensität des Wachstums erreichte über das letzte Jahrzehnt mit 0,8% beinahe wieder den Höchstwert von 0,9% der 1980er- Jahre. Eine hohe Arbeitsintensität bedeutet ein Wachstum in die Breite. Ein Wachstum in die Tiefe wäre demgegenüber durch hohe Produktivitätssteigerungen geprägt, die wohl auch mit einer geringeren Arbeitskräftenachfrage einher ginge. Trotz des Wachstums in die Breite ist es der Schweiz gelungen, sich zu einem der reichsten Länder der Welt zu entwickeln, wenn man das BIP pro Kopf der Bevölkerung als Mass für den Wohlstand nimmt. Insbesondere erlaubte dieses Wachstum in die Breite dank der hohen Arbeitsmarktpartizipation allen Bevölkerungsschichten am zusätzlich geschaffenen Wohlstand zu partizipieren. In Anbetracht des erreichten Wohlstandsniveaus war und ist das spezifisch schweizerische Wachstumsregime durchaus erfolgreich.

Hohe Arbeitskräftenachfrage

Die hohe Arbeitsintensität des Wirtschaftswachstums generiert naturgemäss eine hohe Arbeitskräftenachfrage, die durch das einheimische Arbeitskräfteangebot nicht mehr gedeckt werden kann. Die hohe Zuwanderung ist weniger eine Folge davon, dass viele Ausländer in die Schweiz zu kommen wünschen (Zuwanderungsdruck), sondern resultiert aus einer hohen Arbeitskräftenachfrage (Sogwirkung des Arbeitsmarktes). Die seit Einführung des Personenfreizügigkeitsabkommens nachfragegesteuerte Zuwanderung hat bislang zu keinen nennenswerten negativen Auswirkungen am Arbeitsmarkt geführt. Die jahresdurchschnittliche Arbeitslosigkeit ist während der Finanzmarktkrise stets unter 4% geblieben, während sie im OECD-Durchschnitt deutlich über 8% gestiegen ist. Ebenso konnten keine systematisch negativen Effekte der Zuwanderung bezüglich der Lohnentwicklung festgestellt werden. Die Lohnsumme insgesamt und pro Erwerbstätigen ist real seit Einführung der Personenfreizügigkeit im Jahr 2002 nicht langsamer gewachsen als früher; der Anteil des Arbeitseinkommens am Gesamteinkommen ist stabil geblieben, und die Verteilung des Lohnwachstums war über die verschiedenen Lohnsegmente recht ausgeglichen.

Bauinvestitionen stagnieren

Die Produktion in der Schweiz profitiert mit der Personenfreizügigkeit heute von einer hohen Vermehrbarkeit des Faktors Arbeit, der ausserdem über das gesamte Qualifikationsspektrum reichlich vorhanden ist. Als den Wachstumsprozess limitierender Faktor erweist sich zunehmend der Immobilienmarkt, auf welchem sich nach Regionen differenziert mehr oder weniger starke Verknappungsphänomene mit entsprechenden Preissteigerungen bemerkbar machen. Da die Bauinvestitionen heute real gerechnet auf demselben Niveau wie 1990 liegen und die Zahl der neu erstellten Wohnungen seit den 1980er-Jahren bei jährlich knapp 40 000 Einheiten stagniert, ist dies nicht weiter erstaunlich. Die Bauinvestitionen haben bislang kaum auf das zuwanderungsbedingte Bevölkerungswachstum reagiert. Bleiben daher höhere Bauinvestitionen weiterhin aus, könnte dies nicht nur zu weiteren Verknappungserscheinungen mit inflationären Tendenzen am Immobilienmarkt führen, sondern es könnte dadurch auch die bislang hohe politische Akzeptanz der Personenfreizügigkeit und der damit verbundenen Zuwanderung erodieren. Ein solcher Stimmungsumschwung würde das Wachstumspotenzial der Schweiz nachhaltiger einschränken, als der chronische Mangel an adäquat qualifizierten Arbeitskräften zu Zeiten vor der Personenfreizügigkeit mit der EU/EFTA (Europäischen Freihandelsassoziation). Mit einer Nettoinvestitionsquote von gegenwärtig unter 5% und seit gut zwanzig Jahren laufend sinkendem Anteil der Bruttoinvestitionen am BIP muss es nun in der Schweiz selber wieder zu einem Investitionsschub kommen. In einer alternden Gesellschaft, die eher dem Konsum Priorität beimisst, ist dies allerdings zugegebenermassen schwierig.

Dieser Artikel erschien in «Die Volkswirtschaft» vom 18. Juni 2011.