Wie beurteilen Sie den sozialen Zusammenhalt in der Schweiz?
Schwarz: Der soziale Zusammenhalt ist eine der grossen Stärken der Schweiz. Grosse Gesellschaften fallen leichter auseinander als eine kleine Gesellschaft wie die Schweiz, die in sich nochmals sehr kleinkammerig mit Kantonen und Gemeinden organisiert ist. Aufgrund der Urbanisierung ist der soziale Zusammenhalt nicht mehr so stark wie früher, aber im internationalen Vergleich immer noch ausgeprägt.
Lampart: Bedingung für den sozialen Zusammenhalt ist, dass alle etwas von der wirtschaftlichen Entwicklung haben. Das gilt für die Schweiz in den letzten Jahren nicht mehr. Die tiefen und mittleren Einkommen haben real nahezu stagniert. Wichtig sind auch gute Sozialwerke. Gerade jene Länder leiden am meisten unter der Finanzkrise, die eine schwache soziale Sicherung haben.
Schwarz: Die Arbeitslosenversicherung ist wichtig, da Konjunkturschwankungen zu einer dynamischen Wirtschaft gehören. Es gibt aber auch wirtschaftlich erfolgreiche Länder, die weniger soziale Sicherung haben als wir. Sozialer Zusammenhalt wird mehr noch als durch Sozialversicherungen oder staatliche Umverteilung durch das Zusammenleben der Leute gesichert. In der Schweiz gibt es nach wie vor keine klassenkämpferische Situation. Das hat nicht in erster Linie mit den Sozialversicherungen zu tun, sondern damit, dass man in vielen kleineren Gemeinden und in vielen Unternehmen den Arbeitgeber nicht als entrückten Kapitalisten erlebt, sondern als Menschen.
Lampart: Sozialversicherungen sind nicht die Ursache für den sozialen Zusammenhalt, aber sie federn ab in schwierigen Situationen. Zentral ist, dass die Menschen das Gefühl haben, dass sie dazugehören. Ich stelle einen verstärkten Unmut bei der Mittelschicht fest, sei es wegen der Lohnsituation, der steigenden Krankenkassenprämien oder der Wohnungsnot. Auf der anderen Seite sehen diese Menschen, dass es Geld gibt in unserem Land. Die Leute müssen ihren Anteil am Wohlstand haben.
Herr Lampart hat die steigenden Krankenkassenprämien angesprochen. Haben Sie Lösungsvorschläge für das Problem der zunehmenden Gesundheitskosten?
Schwarz: Mit steigendem Wohlstand gibt man grundsätzlich mehr Geld für die Gesundheit aus. Dazu kommt der technologische Fortschritt, der zu einer höheren Lebenserwartung beiträgt. Diese Kosten muss und kann sich unsere Gesellschaft leisten. Nach dem Prinzip der Selbstverantwortung sollte der Einzelne die Gesundheitskosten aber so weit wie möglich selber finanzieren. Viele sind sich nicht bewusst, dass sie ihre Gesundheitskosten bei Weitem nicht selbst zahlen, sondern dass ein grosser Teil vom Staat finanziert wird. Die Besserverdienenden leisten einen wesentlich höheren Beitrag zur Finanzierung. Die Menschen sollten die Kosten der Gesundheit kennen. Ich finde es schlecht, dass ein sehr grosser Teil der Bevölkerung Prämienverbilligungen erhält. Wenn wir zu breit fahren in der Prämienverbilligung, fehlt am Schluss das Geld für jene, die wirklich bedürftig sind. Unterstützung brauchen 10 bis 15 Prozent der Gesellschaft.
Lampart: Die Krankenversicherung ist eine Sozialversicherung, die in irgendeiner Form eine Abfederung braucht. Ich glaube nicht, dass es viele Möglichkeiten gibt, Kosten ohne einen Leistungsabbau zu senken. Mich stört, dass die Kantone die Fallpauschalen offenbar nutzen wollen, um aus der Spitalfinanzierung punktuell auszusteigen. Das führt zu einer weiteren Verlagerung von einkommensabhängig finanzierten Steuerbeiträgen zu Kopfprämien. Mittelfristig führt kein Weg an einkommensabhängigen Prämien vorbei.
Schwarz: Bei einkommensabhängigen Krankenkassenprämien zahlen Personen, die vielleicht am wenigsten Risiko, aber ein hohes Einkommen haben, unter Umständen am meisten Krankenkassenprämien und umgekehrt. Das wäre nicht mehr eine Versicherung, sondern ein gigantisches Umverteilungssystem. Ich bin der Ansicht, dass man nur mit einem einzigen Instrument umverteilen sollte, nämlich mit der Steuer.
Lampart: Personen mit hohem Einkommen fahren mit dem heutigen Krankenversicherungssystem viel besser als Personen mit tiefem Einkommen.
Schwarz: Bei einem höheren Einkommen tut jede Ausgabe weniger weh als bei einem tieferen Einkommen. Zu einer dynamischen Gesellschaft gehören Einkommensunterschiede.
Sehen Sie in Bezug auf diese Einkommensunterschiede Handlungsbedarf?
Lampart: Die Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen sind gesetzeswidrig. Es gibt auf Bundesebene X halbherzige Versuche, diesen illegalen Zustand zu beheben, die mehr schlecht als recht funktionieren. Wenn man erwerbstätig ist, sollte man von seinem Einkommen leben können. Kinder sollten nicht arm sein, weil die Eltern arm sind. Da haben wir gewaltigen Handlungsbedarf. Eine klassische Lohnpolitik ohne Bonussysteme, aber mit Gesamtarbeitsverträgen mit gestuften Mindestlöhnen sind wichtige Massnahmen. Wir haben den Vorschlag gemacht, alle Boni über 1 Mio. Franken zu 50 Prozent zu versteuern. Damit könnte man einen Teil der Prämienbelastung verringern. Steuerpolitisch müssen wir über die Bücher, damit Geld bei jenen landet, die den Franken zweimal umdrehen müssen.
Schwarz: Die reichen Leute sind nicht einfach Dagobert Ducks, die ihr Geld scheffeln, sie konsumieren und investieren. Letztlich jammern wir immer noch auf einem unglaublich hohen Niveau. Arme wird es immer geben, und man sollte den wirklich Armen helfen. Aber man sollte auch nicht vergessen, dass es selbst den Ärmsten in der Schweiz im Weltmassstab unglaublich gut geht. Ich will damit die Armut nur relativieren, nicht bagatellisieren.
Lampart: Ich stelle fest, dass unabhängig vom Leistungsausweis ein Kreis von Leuten ihren Lohn deutlich erhöhen kann.
Schwarz: Die Vorstellung ist falsch, dass die anderen Arbeitskräfte mehr verdienen würden, wenn der Manager weniger bekäme. In der Privatwirtschaft ist die Explosion der Managerlöhne vor allem zulasten die Aktionäre gelaufen. Diese wurden «bestohlen », allerdings auch, weil sie sich an den Generalversammlungen zu wenig gewehrt haben.
Braucht es Mindestlöhne?
Lampart: Es ist wichtig, dass die unteren Löhne vom Fleck kommen. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund hat die Mindestlohninitiative lanciert, damit ein unterster Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde eingeführt wird. Alles andere führt zu indirekten Subventionen von Firmen, wenn nachher der Staat diesen Leuten unter die Arme greifen muss.
Schwarz: De facto haben wir ja einen Mindestlohn, Sie hätten einfach gerne einen höheren. Je höher die untersten Löhne sind, desto eher wird man bei der nächsten Krise dort ansetzen und zum Beispiel bei der Reinigung sparen. Mindestlöhne erhöhen den Druck, Personal zu entlassen beziehungsweise nicht einzustellen.
Lampart: Der Mindestlohn ist kein Beschäftigungswunder, aber auch keine Beschäftigungshölle. Der höhere Lohn führt dazu, dass jemand zum Beispiel auf einen Nebenjob verzichten kann.
Schwarz: Dann haben Sie aber nur bewirkt, dass jemand mit weniger Anstrengung das gleiche Einkommen erzielt.
In der AHV müssen immer weniger Erwerbstätige für immer mehr Rentner aufkommen. Laut den SGB-Prognosen ist die AHV aber bis 2025 ohne Beitragserhöhungen auch bei einer weiteren Zunahme der Lebenserwartung finanziert, ohne Leistungskürzungen. Wie soll die finanzielle Nachhaltigkeit erreicht werden?
Lampart: Entwickelt sich die Wirtschaft wie in den letzten 20 Jahren, ist die AHV bis 2025 finanziell gesichert. Die Arbeitsmarktpolitik und die Arbeitsmarktsituation werden entscheidend sein. Wenn wir Löhne haben, die gut steigen, und eine gute Beschäftigungssituation, dann kann man sogar über 2025 hinaus gelassen sein. Mit einer Erbschaftssteuer zugunsten der AHV sind möglicherweise gar keine Beitragserhöhungen nötig. Wenn die Produktivität etwa so wie in der Vergangenheit zunimmt, werden unsere Nachkommen mehr Geld zur Verfügung haben als wir. Dazu kommt, dass sie Infrastruktur und Häuser erben.
Schwarz: Die Lebenserwartung ist seit der Einführung der AHV gestiegen, und sie wird gemäss Prognosen noch weiter steigen. Wir sollten uns früh um die Finanzierung kümmern, damit wir nachher nicht irgendwelche Schocks erleben. Wir haben bei Avenir Suisse einmal den Vorschlag gemacht, dass man das Rentenalter jedes Jahr um einen Monat erhöht. Das entspricht ungefähr dem jährlichen Anstieg der Lebenserwartung. Ich glaube, es tut niemandem weh, wenn das Rentenalter alle 12 Jahre um ein Jahr steigt. Wenn Sie entgegen allen Prognosen recht bekommen sollten und die Finanzierung kein Problem wäre, könnten die Leute sich immer noch früher pensionieren oder sich höhere Renten auszahlen lassen.
Heutzutage haben wir die Situation, dass viele Menschen vor dem gesetzlichen Rentenalter in Pension gehen.
Schwarz: Gemäss Travailsuisse werden in Zukunft Arbeitskräfte fehlen. Es ist sowohl ökonomisch als auch menschlich sinnvoll, dass vorhandenes Potenzial genutzt wird. Die Wirtschaft muss umdenken und offener werden gegenüber älteren Arbeitskräften und vor allem auch gegenüber Teilzeitmodellen, gerade bei älteren Leuten. Arbeit ist nicht etwas Negatives. Nicht alle Personen sind froh, wenn sie mit 65 mit der Arbeit aufhören können. Es gibt sicher Berufe, die extrem belastet sind. Das wäre ein anderer Ansatz: ein Rentenalter, das abhängig ist von der Zahl der Beitragsjahre. Leute, die länger in die Schule gegangen sind, müssen länger arbeiten. Jemand, der seit 15 auf dem Bau ist, kann früher in Pension gehen.
Lampart: Es gibt eine Altersdiskriminierung. Es braucht eine Arbeitspolitik, damit ältere Arbeitskräfte eine Chance im Arbeitsmarkt haben. Viele Leute haben Angst, dass sie nicht bis ins Rentenalter arbeiten können und dass sie im Rentenalter nur mehr schlecht als recht von der Rente leben können. Für Erwerbstätige mit tiefen und mittleren Löhnen braucht es eine Rentenerhöhung. Eine Rentenalterserhöhung bringt hingegen finanziell wenig und ist weit weg von der Realität der Leute.
Dieses Interview erschien in «Schweizer Personalvorsorge» vom 14. Juli 2011