Corippo im Verzascatal hat 12 Einwohner. Die Stadt Zürich hat gut 375 000 Einwohner. Wer von «Gemeinde» redet, meintalso von Fall zu Fall etwas völlig anderes. Wenn seit dem Jahr 2000 in der Schweiz 404 Gemeinden durch Fusionen verschwunden sind und es absehbar ist, dass dieser Prozess weitergeht, muss man sich vor Verallgemeinerungen hüten – egal, ob man diesen Schwund ablehnt oder begrüsst.
Um möglichst unbefangen über diese Veränderungen diskutieren zu können, muss man sich aber sowohl der Gemeinsamkeiten wie auch der Unterschiede zwischen den Gemeinden bewusst werden. Dabei könnte das neuste Kantonsmonitoring von Avenir Suisse helfen, das gestern Freitag präsentiert wurde. Es stellt eine Fülle von Daten zusammen und gibt damit einem Überblick über strukturelle Probleme und Lösungsansätze. Auch wenn Autor Lukas Rühli keinen Hehl daraus macht, dass seiner Meinung nach weitere Gemeindefusionen nicht nur kommen werden, sondern auch nötig sind, ist diese Datensammlung dennoch geeignet, einem Faktenlage und Probleme bewusst zu machen.
Vor allem wird einem immer wieder klar, dass sich die Lage von Kanton zu Kanton bei fast allen Perimetern immer wieder anders präsentiert. Das beginnt schon bei den Gemeindegrössen. Der Median – das heisst, die Hälfte der Gemeinden ist grösser als diese Zahl, die andere Hälfte kleiner – klafft mit gut 8000 in Zug und weniger als 400 in Graubünden weit auseinander. Und wer nun argumentiert, Graubünden sei eben ein typischer Gebirgskanton, muss sich dann fragen lassen, warum der Median im Gebirgskanton Obwalden bei fast 5000 liegt. Merke: Es gibt auf keinem untersuchten Gebiet klare und einfache Gesetzmässigkeiten, von Regeln schon gar nicht zu reden!
Dazu noch eine Angabe: Neben Schaffhausen haben nur gerade GE, GL und VD eine Struktur, die einzig politische und daneben noch Kirchgemeinden kennt, alle anderen Kantone haben einen wilden Mix mit Schulgemeinden, Bürgergemeinden, Korporationen und anderen Spezialformen. Bei den Bezirken gibt es sogar acht verschiedene Aufgabengebiete mit eigenen Kompetenzen!
Die nackten Finanzzahlen täuschen
Natürlich tauchen in der ganzen Untersuchung immer wieder Finanzzahlen aller Art auf. Denn die Gemeindeautonomie steht und fällt natürlich mit den finanziellen Möglichkeiten, über das eigene Schicksal bestimmen zu können — soweit das der gesetzliche Rahmen überhaupt zulässt. (Dass dieser Rahmen ebenfalls von Kanton zu Kanton verschieden ist, sei nur in Klammern erwähnt.)
Dabei warnt Rühli davor, Finanzzahlen als alleinigen Massstab zu nehmen. Er stellt sogar fest, Finanzen könnten ebenso gut für wie gegen Fusionen sprechen — auch da gebe es keine allgemeine Regel. Um den Grad der Autonomie beurteilen zu können, müsse man unbedingt die Subventionen und den Finanzausgleich betrachten sowie allfällig daran geknüpfte Bedingungen. In vielen Bereichen — häufiges Beispiel etwa Lehrpensen und -gehälter — seien Gemeinden heute nur noch reine Vollzugsorgane Kantonaler Vorschriften. Der Grundsatz «Wer befiehlt, zahlt» sei nur gerade im Kanton Glarus umgesetzt, der ja nach einer radikalen Reorganisation heute nur noch drei Gemeinden umfasst. ZH und NE seien anderseits Beispiele dafür, dass Finanzierung und Regelungskompetenz besonders weit auseinanderklafften.
Dass die befragten Gemeindeschreiber subjektiv das Gefühl haben, die wahren Kompetenzen der Gemeinden seien in den letzten Jahren beschnitten worden, passt zu dieser Aussage. Auch hier sind aber die Unterschiede zwischen den Kantonen riesig: Während etwa die Hälfte der Luzerner Gemeindeschreiber meint, die Kompetenzen der Gemeinden seien ausgeweitet worden, sind 80 Prozent ihrer jurassischen Kollegen der Ansicht, sie hätten abgenommen. Dass derartige Einschätzungen den Willen oder Unwillen zu Fusionen beeinflussen, liegt auf der Hand.
Zusammenarbeit unter der Lupe
Eine äusserst interessante Analyse leistet Rühli auch im Bereich der Zusammenarbeit unter den Gemeinden. Auch das ist ein breites Feld: Etwa 90 Prozent aller Gemeinden waren beispielsweise 2009 in Zweckverbänden für Spitex/Hauspflege. Weniger als zehn Prozent hingegen arbeiteten auf der Stufe Gemeindebehörden zusammen. Auch in der Informatik sind es bescheidene 30 Prozent. Interessant anderseits die Feuerwehr. Wenn man bei Diskussionen um Fusionen immer wieder hört, die «Bürgernähe» — was immer das genau auch ist — sei gefährdet, müsste man annehmen, diese Institutionen, die während Jahrzehnten als Schmelztiegel schlechthin galten, seien ein Prototyp für diese Bürgernähe. Fehlanzeige: Knapp 90 Prozent der Gemeinden arbeiten im Feuerwehrwesen zusammen.
Auffallend auch, dass die interkommunale Zusammenarbeit in den drei welschen Kantonen VD, NE und GE mit Abstand am stärksten ist. OW ist, ganz knapp hinter Schaffhausen, am anderen Ende der Skala zu finden. Mehr über spezifische Aussagen zu Achaffhausen finden sich im Artikel unten.
Sowohl kantonale Auskunftspersonen wie auch Gemeindeschreiber waren im Übrigen überzeugt, dass die meisten Zusammenarbeitsformen mit einem Abbau an Bürgermitsprache einhergehen, weil die Entscheidungskompetenzen meist an spezielle Gremien abgegeben werden. Auch die Zusammenarbeitsformen sind sehr unterschiedlich. In Schwyz etwa basieren fast die Hälfte auf einfachen Verträgen. In Appenzell Innerhoden anderseits sind 80 Prozent an öffentlich-rechtliche juristische Personen delegiert. Bezeichnend auch , dass kaum ein Kanton eine Übersicht darüber hat, wie viele Kooperationsstrukturen es zwischen den Gemeinden gibt und wie diese im Einzelnen funktionieren.
Und schliesslich gibt es auch verbreitete Zweifel an der Effizienz derartiger Kooperationen. Zwar werde, so die befragten Kantonsexperten, häufig sehr gute Arbeit geleistet, aber ob das zu günstigen Preisen erfolge, sei sehr ungewiss. Das hängt direkt mit der mangelnden demokratischen Kontrolle zusammen: Die Leitung von Zweckverbänden und ähnlichen Kooperationen sei oft an fachspezifische Kommissionen abgegeben. Diese aber neigten zu perfekten fachspezifischen Lösungen, bei denen die finanzielle Effizienz eine untergeordnete Rolle spiele.
Einen Ausweg aus diesem Dilemma könnten Agglomerationsverbände bilden, wie sie in einigen welschen Kantonen in den letzten Jahren geschaffen wurden. Hier gibt es volle demokratische Mitwirkungsrechte. Der Nachteil: Derartige Verbände müssen mindestens 20 000 Einwohner und ein städtisches Zentrum haben.
Die Sachen mit den Fusionen
Selbstverständlich thematisiert Rühlis Arbeit auch immer wieder die Frage von Gemeindefusionen. Ohne Einmischung der Kantone, so stellt Rühli kurz und bündig fest, gehe auf diesem Gebiet gar nichts. Anderseits habe es bis jetzt nur im Tessin und in der Waadt Zwangsfusionen gegeben, obwohl auch fünf andere Kantone von Gesetzes wegen dazu befugt wären. In fast allen Kantonen gebe es zudem inzwischen finanzielle Instrumente zur Förderung von Gemeindefusionen sowie Unterstützung bei der Lösung administrativer Probleme.
Ein Problem, das sich nach Meinung der Gemeindeschreiber zu akzentuieren scheint, ist die mangelnde Bereitschaft, öffentliche Ämter zu übernehmen. Das könnte, so vemutet der Autor, auch damit zusammenhängen, dass sich die Geschäftslast auch auf Gemeindebene weg von unumstrittenen Fragen immer mehr hin zu kontroverseren Problemen im Bereich der Bau-, Verkehrs, Raumplanungs-, Jugend-, Ausländer- und Sozialpolitik verschiebe — alles Fragen, bei denen das Amt eines Gemeinderates nicht mehr wie früher mit Macht und Reputation verbunden sei. Zugleich mischten sich die Bürger immer mehr ein, was die Arbeitslast auch erhöhe.
Riemenstalden: Mehr als Wollerau
Der Finanzausgleich hat of groteske Wirkungen. Lukas Rühli erwähnt als Beispiel die Gemeinde Riemenstalden SZ. Sie bezieht sagenhafte 95,1 Prozent ihrer Erträge aus Transferzahlungen des Kantons. Die Folge: Der Ertrag pro Kopf ist 3.9-mal höher als in Wollerau – mit seinen vielen Millionären eine der reichsten Gemeinden der Schweiz.
Dieser Artikel erschien in den «Schaffhauser Nachrichten» vom 31. März 2012.