Die erste Säule der Altersvorsorge (AHV) und die obligatorische Krankenversicherung (OKP) sind Grundpfeiler der sozialen Sicherheit in der Schweiz. 2012 beanspruchten die beiden Versicherungen 44% aller Sozialausgaben. Die Leistungen dieser Sozialwerke sind gesetzlich verankert und damit auch künftig vorgegeben. Doch diese Leistungsversprechen werden nicht vorfinanziert, sondern müssen durch künftige Generationen sichergestellt werden.
AHV als Durchlauferhitzer
In der AHV finanzieren die Lohnbeiträge der Aktiven die laufenden Renten der Pensionäre. Die erste Säule der Altersvorsorge basiert also nicht auf Sparen, sondern entspricht einem gut organisierten, solidarischen Transfersystem. Dabei spielt das Mengenverhältnis von Erwerbstätigen zu Rentner eine wichtige Rolle. Die AHV-Ausgaben werden infolge der Pensionierung der geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer, die zudem immer länger leben, künftig signifikant steigen. Will man dieses Kostenwachstum ohne Erhöhung der AHV-Beitragssätze finanzieren, muss die Gesamtlohnsumme in der Schweiz – und damit die kumulierten Lohnbeiträge – im gleichen Ausmass steigen.
Dies kann einerseits durch eine Erhöhung der Reallöhne pro Kopf erfolgen. Mittelfristig können diese nur steigen, wenn die Produktivität eines Mitarbeiters, eines Betriebs oder einer Branche steigt. Das Reallohnniveau einer ganzen Volkswirtschaft kann überdies nur dann steigen, wenn der Gesamtkuchen, das Bruttoinlandprodukt, stärker wächst als die Bevölkerung (qualitatives Wachstum). Andererseits kann auch ein quantitatives Wachstum, also die Zunahme der Anzahl Erwerbstätigen, die Lohnsumme erhöhen. Die Geburtenziffer in der Schweiz liegt jedoch mit 1,54 Kinder pro Frau deutlich tiefer als die 2,1 Kinder, die für eine konstante Bevölkerungszahl nötig wären. Aus eigener Kraft kann die Schweizer Wohnbevölkerung mittelfristig ohne Immigration nicht wachsen.
AHV-Defizit ohne Wachstum um 50% höher
Die aktuellsten Projektionen des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) gehen von einem kumulierten Defizit in der AHV von 50 Mrd. Fr. bis 2030 aus. Dabei rechnet das BSV mit einem mittleren Demografieszenario, das einen leichten Rückgang der Nettoeinwanderung von 80‘000 Personen 2015 auf 60‘000 Personen pro Jahr ab 2030 und ein Reallohnwachstum um 0,9% pro Jahr vorsieht. Gemäss unseren eigenen Schätzungen würde bei einem Nullwachstumsszenario (Nettoeinwanderung = 0 Personen pro Jahr, Reallohnwachstum = 0%) das Umlagedefizit der AHV bis 2030 um 50% zunehmen. Schon heute zeigen die zähen Verhandlungen um die Altersvorsorgereform, wie schwierig es ist, das heutige Leistungsniveau bei den offiziellen Wachstumsannahmen zu sichern. Eine Wachstumsschwäche, ja sogar ein Wachstumstopp, würde die Reform schlicht unfinanzierbar machen.
Steigende Belastung der Krankenversicherung
Auch in der Krankenversicherung ist die Finanzierung der Gesundheitsleistungen längerfristig nur mit Wachstum tragbar. Die Krankenkassenprämien sind als Kopfprämien konzipiert. Auf den ersten Blick findet kein Transfer zwischen Aktiven und Rentnern statt, sondern nur zwischen Gesunden und Kranken. Da jedoch der grösste Teil der Gesundheitskosten in den letzten zwei Jahren vor dem Tod, sprich für die Meisten im hohen Alter, anfallen, führt das Kopfprämiensystem de facto zu einer Quersubventionierung der Betagten durch die Jungen. Gemäss einer Studie der Universität St. Gallen flossen 2010 in der Krankenversicherung 6,0 Mrd. Fr. von den Aktiven zu den Rentnern. 2030 wird dieser Zahlungstransfer bereits 20,3 Mrd. Fr. betragen, eine Zunahme um 240%. Auch hier kann der zusätzliche Aufwand durch die jüngeren Generationen nur dann getragen werden, wenn er auf mehr Schultern verteilt wird (quantitatives Wachstum) oder wenn das verfügbare Einkommen pro Kopf signifikant steigt (qualitatives Wachstum).
Kann Wachstum den Generationenkonflikt dämpfen?
Die Finanzierung der AHV und der OKP stellt den Generationenvertrag auf die Probe. Wenn künftig die jüngeren Generationen «nur» gleich viel wie die älteren Generationen in den Vertrag einzahlen, reicht das Geld für ein Altern in Würde nicht. Erwarten die älteren Generationen gleiche finanzielle Leistungen wie ihre Vorfahren, wird die Last für die Aktiven kaum mehr tragbar sein. Ein breit abgestütztes, qualitatives und quantitatives Wachstum kann helfen, die kommenden Herausforderungen zu mildern.
Gleichzeitig kann Wachstum nicht verordnet werden, wie zum Beispiel die lang andauernd Stagnationsphase Japans zeigt. Umso wichtiger ist es, die Wachstumsabhängigkeit beider Sozialwerke in Grenzen zu halten. Einerseits braucht es Mechanismen, die automatisch Korrekturen einleiten, wenn die Finanzierung einer Versicherung aus dem Lot gerät. Eine Ausweitung der Schuldenbremse auf die Sozialversicherungen oder ein Stabilisierungsmechanismus innerhalb der einzelnen Versicherung könnte dieses Ziel erreichen. Andererseits geht es darum, die geltenden Leistungsversprechen nicht auszuweiten. Der im Rahmen der Vorsorgereform 2020 geplante Ausbau der AHV, der jährlich 1,4 Mrd. Fr. zusätzlich kosten würde, zielt genau in die andere Richtung.