Der Schweiz wird oft attestiert, dass sie mit dem Dreisäulensystem über eine intelligente und ausgewogene Altersvorsorge verfügt. Nachdem der Souverän aber am 7. März 2010 die Senkung des Umwandlungssatzes in der zweiten Säule abgelehnt hat, droht die Gefahr, dass dieses System schleichend aus den Angeln gehoben wird. Zwei entscheidende Hebel der Finanzierung stehen nicht mehr im Einklang mit den veränderten demografischen und ökonomischen Realitäten: die Alterung der Gesellschaft und die volatil gewordenen Finanzmärkte, die nicht mehr zwangsläufig die in den Anfangsjahren der obligatorischen beruflichen Vorsorge erzielten Renditen erbringen. Dazu kommen Veränderungen der Lebensformen und der Arbeitswelt. So passt weder der zu hohe Umwandlungssatz zu den veränderten gesellschaftlichen Realitäten noch der überhöhte Mindestzins zu den gedämpften Renditeerwartungen.

Gefährlich viel Umverteilung

Unter den aktuellen gesetzlichen Bedingungen wird pro einbezahlten Franken zu viel Rentenleistung versprochen. So müssten die heute neu gesprochenen Leistungen nach Schätzungen von Experten etwa 30% niedriger festgelegt werden, als es tatsächlich geschieht. Wegen dieser Diskrepanz gibt es in der zweiten Säule gravierende Strukturprobleme, die sich vor allem in einer Aushöhlung von Pensionskassen und in Umverteilung zulasten der aktiven Generation niederschlagen. Es gibt Auswege, obwohl es sozialpolitische Reformen wegen Besitzstanddenkens und schwächer gewordener Solidarität schwer haben. Ein Vorgehen mit fünf Schwerpunkten könnte helfen, den Reformstau in der zweiten Säule zu überwinden.

Erstens braucht es dringend eine Entpolitisierung der massgeblichen Parameter. Die Mindestverzinsung und der Umwandlungssatz als technische Grössen sollten nicht mehr von der Politik – losgelöst von den demografischen Gegebenheiten und den aktuellen bzw. den zu erwartenden Kapitalmarktverhältnissen – festgelegt werden. Diese Grössen müssten entweder durch eine Formel gesteuert oder durch den Bundesrat unbeeinflusst von politischem Druck auf Basis objektiver Kriterien bestimmt werden.

Wenn Leistungen garantiert werden sollen, kann dafür nur auf die Höhe des risikolosen Zinses – sofern es das in der gegenwärtigen Staatsschuldenkrise überhaupt noch gibt – abgestellt werden. Allenfalls müsste auch geprüft werden, ob es nicht zweckmässiger wäre, auf die gesetzliche Festlegung eines Mindestzinses zu verzichten und dafür das angesparte Altersguthaben zu garantieren.

Zweitens muss prozyklisches Anlageverhalten, wie es wegen der kurzfristigen Fokussierung auf den Deckungsgrad Einzug gehalten hat, vermieden werden. Dies erfordert eine langfristig orientierte, aber flexible Handhabung der Deckungserfordernisse in dem Sinne, dass statt einer jederzeitigen Deckung eine solche in einer zeitlichen Spanne von vier bis acht Jahren angestrebt wird. Das wäre systemkonform, weil die Vorsorgeeinrichtungen einen langfristigen Horizont aufweisen. Geglättet würde zudem das Auf und Ab des Deckungsgrades.

Drittens sind die Wettbewerbskräfte zu stärken, was sowohl einen grösseren individuellen Spielraum in der Wahl von Vorsorgeprodukten innerhalb einer Vorsorgeeinrichtung als auch die freie Wahl von Vorsorgeeinrichtungen durch die Versicherten bedeutet. In einer durch Eigenverantwortung geprägten Gesellschaft ist nicht einzusehen, weshalb die Versicherten nicht entsprechend ihrem Risikoprofil selbst über die Anlage der Vorsorgegelder entscheiden sollen.

Kosten transparent machen

Wird die freie Wahl als politisch chancenlos betrachtet, liesse sich als Mittelweg dem Vorschlag von Professor Manuel Ammann folgen: Aufspaltung der zweiten Säule in einen obligatorischen (Säule 2a) und einen frei wählbaren überobligatorischen Teil (Säule 2b). Säule 2a würde wie bisher funktionieren. Für die Säule 2b würden die Arbeitgeber- und die Arbeitnehmerbeiträge im Überobligatorium auf ein individuelles, gebundenes Konto (wie für die Säule 3a) oder auf ein Freizügigkeitskonto eingezahlt.

Viertens braucht es mehr Transparenz und Klarheit, sodass Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Rentner jederzeit über Beiträge, Leistungen, Kapitalanlage, Rendite-Risiko-Profil sowie Kosten der Verwaltung und Vermögensanlage Bescheid wissen. So liessen sich Pensionskassen auch besser miteinander vergleichen. Das Vertrauen als Fundament der beruflichen Vorsorge würde dadurch gestärkt.

Fünftens ist die laufende Aufsichtsrenovation (Strukturreform) auf eine Weise zu Ende zu führen, die mehr Transparenz schafft, die Komplexität reduziert und Kostenersparnisse bringt, nicht zuletzt in der Verwaltung der Vorsorgeeinrichtungen. Eine neue Regulierungswelle und die Beschneidung der Kompetenz der Stiftungsräte sind zu vermeiden. Grundsätzlich trägt ein an Prinzipien orientiertes Rahmengesetz der Vielfalt der Vorsorgeeinrichtungen besser Rechnung als eine detailbehaftete Regulierung.

Zur Realisierung dieses Fünfpunkteprogramms, das die zweite Säule wieder auf eine stabile, langfristig finanzierbare Grundlage stellen und damit auch das Dreisäulenkonzept stärken will, braucht es den starken politischen Willen aller verantwortlichen Akteure. Aufgerufen ist vor allem der Bundesrat, dem eine Führungsrolle zukommt, aber auch die Versicherungswirtschaft, Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie Rentner.

Nur so lassen sich die Reformunfähigkeit der Politik und das kollektive Verdrängen der Probleme in der Altersvorsorge im Allgemeinen und in der zweiten Säule im Besonderen überwinden. Es zeigt sich immer deutlicher, dass das Verdikt des Souveräns gegen die Senkung des Umwandlungssatzes auf eine gesellschaftliche und ökonomische Realität prallt, die nicht aus der Welt zu schaffen ist. Je schneller dies erkannt und entsprechend gehandelt wird, desto sicherer ist die zweite Säule.

*erschienen in Finanz-und Wirtschaft am 16.2.2011