Traditionelle Schlüsselbranchen der Bündner Wirtschaft stehen unter Druck. Der Bergtourismus befindet sich in einem tiefgreifenden Strukturwandel, die Baubranche kämpft mit den Folgen der Zweitwohnungsinitiative und die Wasserkraft mit den niedrigen Strompreisen. Ziel der Standortpolitik muss die Bewältigung des Strukturwandels und die Erschliessung neuer Wertschöpfungsquellen sein. Um dies zu erreichen, müssen jedoch die Rahmenbedingungen der Bündner Wirtschaft verbessert werden. Im UBS-Ranking zur Wettbewerbsfähigkeit der Kantone liegt Graubünden auf dem drittletzten Platz. Grund dafür ist vor allem das schwache Abschneiden in den Bereichen Wirtschaftsstruktur (d.h. Branchenmix), Innovation und Humankapital.

Regionales Innovationssystem weiterentwickeln

Um diese Schwächen zu beheben, bedürfte es einer kantonalen Innovationsstrategie, d.h. eines Massnahmenbündels zur Stärkung und Weiterentwicklung des «regionalen Innovationssystems». Die Bündner Innovationslandschaft umfasst lokale Branchenballungen wie der Industriecluster im Rheintal oder die Konzentration von Tourismusbetrieben in grösseren Destinationen. Kreative Ökosysteme können sich aber auch um Bildungszentren oder um innovative Grossunternehmen wie Hamilton und Ems-Chemie entwickeln – etwa in Form von Zuliefernetzwerken oder Ausgründungen. Mögliche Stossrichtungen einer kantonalen Innovationsstrategie für Graubünden werden im Folgenden skizziert.

Ein gemeinsames regionales Innovationssystem für die Region Graubünden, St. Gallen, Fürstentum Liechtenstein und Österreich. (vug)

Zentrumsfunktion des Bündner Rheintals: Das wirtschaftliche Kraftzentrum des Kantons ist das Rheintal – dort konzentrieren sich Bevölkerung, Arbeitsplätze und Infrastruktur. Aber dieses Potenzial wird aufgrund mangelnder Koordination und wegen kleinräumiger Rivalitäten zwischen Nachbargemeinden unzureichend genutzt. Der Kanton ist gefordert, über seine Richtplanung der Zersiedlung des Talbodens entgegenzuwirken. Wichtig ist es, die urbanen Qualitäten von Chur zu stärken und die Siedlungsentwicklung zwischen Chur und den Umlandgemeinden enger abzustimmen, wie dies teilweise bereits über das bestehende Agglomerationsprogramm geschieht. Darüber hinaus gilt es, innovative Strategien für die Weiterentwicklung der «Talstadt» zu entwickeln – beispielsweise durch einen städtebaulichen Ideenwettbewerb oder die Aufwertung der Landschaftsräume auf dem Talboden.

Alpenrheintal als Industriecluster und Innovationskorridor: Das Alpenrheintal vom Bodensee bis nach Domat/Ems ist stark industrialisiert. Die Standortpolitik innerhalb dieses gemeinsamen Wirtschaftsraumes ist aber aufgrund der politischen Fragmentierung nur unzureichend koordiniert. Graubünden, St. Gallen, Liechtenstein und Vorarlberg wären gut beraten, eine grenzüberschreitende Strategie für das gemeinsame «Industrie- und Innovationstal» zu entwickeln. Ein erster Schritt könnte eine Clusteranalyse für das Alpenrheintal sein. Eine konkrete Massnahme zur effektiveren Integration dieses gemeinsamen Wirtschaftsraums wäre eine engere Verzahnung der ÖV-Fahrpläne, langfristig eventuell ein gemeinsamer Verkehrsverbund. Denkbar wäre eine bessere Abstimmung der tertiären Bildungsangebote (Berufsbildung, Fachhochschulen etc.) innerhalb des «Alpenrhein-Valleys».

Die Bedeutung von Bildungszentren als Ankerinstitutionen: Tertiäre Bildungseinrichtungen bilden Fachkräfte aus, wirken der Abwanderung entgegen und tragen zur demografischen Verjüngung alternder Regionen bei. Im Tessin – ebenso wie in Südtirol – gelang in den letzten 20 Jahren der Aufbau eigener Universitäten, die sich zu wichtigen Standortfaktoren entwickelt haben. Der Kanton Wallis hat mit der ETH in Lausanne (EPFL) einen starken externen Partner gefunden, um in Sitten ein Campusareal zu entwickeln, auf dem bereits vorhandene Institutionen zusammengeführt werden. Im Rahmen dieses Projektes werden 350 Mio. Fr. investiert. Auch in Graubünden gilt es wichtige Bildungsinstitutionen zu stärken und gleichzeitig ihr Profil innerhalb der Schweizer Hochschullandschaft zu stärken. Eine wichtige Weichenstellung in diesem Zusammenhang sind die Pläne für ein neues Hochschulzentrum für die HTW Chur.

Investitionen in Brain statt Beton

Investitionen in die digitale Infrastruktur: In vielen Regionen der Alpen wurde Strukturpolitik lange Zeit nach der Devise betrieben «Wo gebaut wird, floriert die Wirtschaft». Beispiele für diese Haltung sind teure und oft überdimensionierte Infrastrukturbauten, Exzesse beim Zweitwohnungsbau oder die Sehnsucht nach sportlichen Grossereignissen. In einer digitalen Wissensökonomie bedarf es jedoch Investitionen in «Brain statt Beton», d.h. in Bildung, in regionale Innovationssysteme, aber auch in digitale Infrastrukturen. Gerade die flächendeckende Breitbandversorgung sollte in den nächsten Jahren eine Toppriorität der Bündner Kantonsregierung haben. Dafür bedarf es eines Basisnetzwerks (Backbonesystem) aus Glasfaserkabeln und eine Feinverteilung über deutlich kostengünstigere Funknetze.

Neuer Schub für die touristische Entwicklung in den Regionen: Touristische Destinationen sind kleinräumige Branchencluster, ihre Weiterentwicklung ist zentral für die Bewältigung des Strukturwandels im Bergtourismus. Bei der Destinationsentwicklung geht es einerseits um eine stärkere Profilbildung, d.h. die Spezialisierung auf bestimmte Marktsegmente wie Wellness oder junge Familien. Regionale, breit abgestützte Standortentwicklungsstrategien, wie sie der Kanton Graubünden im Prozess «Agenda 2030» erarbeitet hat, bilden eine Grundlage für die Priorisierung und Bereitstellung der dafür notwendigen Infrastrukturen. Andererseits geht es um eine effektivere Produktbündelung, denn die Touristen erwarten heutzutage massgeschneiderte Pakete, die sie online buchen können. Das Beispiel der Weissen Arena in Flims Laax zeigt, dass Profilbildung und Produktbündelung auch im Bergtourismus funktioniert. Bergbahnen und Tourismusorganisationen fallen Schlüsselrollen bei der Destinationsentwicklung zu, eine enge Koordination sämtlicher Akteure ist selbstverständlich. Kantonale Fördermittel für regionale Tourismusprojekte sollten künftig nur noch dann gesprochen werden, wenn eine verbindliche Strategie zur Destinationsentwicklung vorliegt und das Projekt deren Umsetzung dient.

Zweitwohnungsbesitzer als Akteure des Wandels: Mit einem Zweitwohnungsanteil von über 40% hat Graubünden fast so viele «Zweitheimische» wie Einheimische. Unter ihnen gibt es viele Unternehmer und Selbstständige; sie sind oft qualifiziert, vermögend und mit Graubünden emotional verbunden. Es gilt, sie als Investoren, Impulsgeber und Miliztätige zu gewinnen und gezielter in Projekte vor Ort einzubinden. So könnten etwa Gemeinden mit hohem Zweitwohnungsanteil einen «Rat der Zweitwohnungsbesitzer» benennen, als konsultatives Gremium für die Gemeindepolitik. Denkbar wäre auch ein institutionalisiertes «Relationship- Management», so wie es Hochschulen für ihre Alumni kennen (z.B. koordiniert durch einen kantonalen «Zweitwohnungsbeauftragten»). Eine innovative Idee kommt aus Tirol: Der Standortförderer organisierte eine Start-up-Konferenz in Kitzbühel, um unter Zweitwohnungsbesitzern Investoren und Business Angels für Tiroler Jungunternehmer zu gewinnen.

Innovationpotenziale im Handwerk: Gerade im Berggebiet sind Innovationspotenziale weniger in klassischen Hightechbranchen zu suchen, sondern in Handwerk, Land- und Forstwirtschaft. Dies zeigen Beispiele aus anderen Regionen der Alpen. Ähnlich wie Vorarlberg beim Holzbau hätte Graubünden Potenzial im Bereich des alpinen Bauens. Eine traditionsreiche Baukultur, internationale Bündner Architekten und entsprechende Kompetenzen in Handwerk und Baubranche bieten gute Voraussetzungen für die Entwicklung eines Kompetenzclusters.

Geeignete Strategien für potenzialarme Räume: Ein stures «Ansubventionieren» gegen Schrumpfungsprozesse in peripheren Räumen ist teuer und wenig effektiv. Vielmehr bedarf es massgeschneiderter Strategien. Dazu zählen innovative Ansätze für eine kostengünstige Grundversorgung wie Rufbus-Systeme oder Postagenturen in Dorfläden. Zudem gibt es Dienstleistungen, für die Abgeschiedenheit ein Standortvorteil ist, wie Internate oder Rehabilitationskliniken. Auch die Digitalisierung schafft neue Potenziale, beispielsweise in Form von Telearbeit oder durch den Online-Vertrieb regionaler Produkte. Zahlreiche neu gegründete Regionalpärke sind eine Chance, die Landschaft in Wert zu setzen und Wertschöpfungsketten im sanften Tourismus zu entwickeln.

Handlungsfähige Strukturen schaffen

Die Talschaft als Handlungsraum: Um den Strukturwandel zu meistern, gilt es, Kräfte zu bündeln und die Zusammenarbeit in funktionalen Räumen zu verbessern. Dazu zählen im Berggebiet vor allem die Talschaften, denn als Landschaftskammern sind sie auch wirtschaftliche und soziale Einheiten. Entsprechend bedeutend ist der Trend zur Bildung von Talgemeinden. Alleine zwischen 2000 und 2015 kam es im Berggebiet zu 43 Gruppenfusionen ganzer Talschaften oder Abschnitte grosser Täler. Mit 15 derartiger Zusammenschlüsse war Graubünden Vorreiter dieses Trends. Alternativen zu Fusionen sind regionale Zweckverbände, in denen bestimmte Gemeindeaufgaben oder raumplanerische Instrumente zur besseren Koordination der Raumnutzung auf dem Talboden gepoolt werden.

Regionale Handlungsebene stärken: Entscheidend für die effektive Umsetzung der Regionalpolitik ist aber weiterhin das Regionalmanagement – also die Trägerstruktur, mit der regionale Strategien entwickelt, Projekte konzipiert und umgesetzt werden. Eine Toppriorität für die Standortpolitik in Graubünden sollte die Stärkung der Regionalentwickler haben. Diesbezüglich lohnt sich ein Blick ins Wallis: Die Region Oberwallis etwa verfügt über eine Geschäftsstelle, das Regions- und Wirtschaftszentrum Oberwallis AG. Träger der RW Oberwallis sind die Privatwirtschaft, die Gemeinden und der Kanton. Diese beschäftigt inzwischen zwölf Mitarbeiter und spielt eine Schlüsselrolle für die Entwicklung der Region. Das RW Oberwallis erarbeitet Analysen und Strategien; es konzipiert eigene Projekte und übernimmt Projektmanagements für Dritte. Beispiele sind eine Strategie für die Erschliessung der Region durch ein Glasfasernetz, die Einführung der regionalen Gästekarte Oberwallis, das Management des Agglomerationsprogramms Brig-Visp- Naters oder die Begleitung von Gemeindefusionen.

Fazit

Für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Graubündens und eine erfolgreiche Erschliessung neuer Wertschöpfungsquellen spielt die Weiterentwicklung des regionalen Innovationssystems eine entscheidende Rolle. Ein Menü prioritärer Stossrichtungen und möglicher Massnahmen wurde in diesem Beitrag kurz skizziert. Weitere Vorschläge und Best-Practice-Beispiele aus anderen Regionen finden sich in der Avenir-Suisse-Studie «Strukturwandel im Schweizer Berggebiet», die hier kostenlos heruntergeladen werden kann.

Dieser Beitrag ist im Bündner Wirtschaftsmagazin «Puls» (Nummer 46) vom Dezember 2017 erschienen (pdf Download)