Geschätzte Frau Vizepräsidentin

Sehr geehrte Behördenmitglieder von Fällanden

Geschätzte Festgemeinde!

Ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihre heutige Einladung zur Teilnahme an den Feierlichkeiten zu unserem Nationalfeiertag; der Musikgesellschaft Fällanden danke ich sehr für die hervorragend organisierte Festwirtschaft. Es ist heute ein perfekter Sommerabend, um den Geburtstag der Eidgenossenschaft zu feiern.

Jeder von uns feiert in der Regel seinen eigenen Geburtstag zusammen mit Freunden und Familie. Fundament dazu ist das zusammen Erlebte, man schaut manchmal etwas wehmütig auf die eigene Lebensgeschichte zurück – man schaut aber auch auf die Gegenwart und wirft einen Blick auf die nächsten Jahre, in die Zukunft. Was für den eigenen Geburtstag gilt, gilt auch für den Geburtstag unseres Landes.

Unser Landesgeburtstag, der 1. August, hat etwas Verbindendes, stärkt das Gemeinsame, das Heimatliche, unser Zusammengehörigkeitsgefühl. Dazu pflegen wir rege Mythen.

Alleine schon das Geburtsdatum der alten Eidgenossenschaft ist ja mythisch umrankt. Das haben wir nicht zuletzt den Bernern zu verdanken. 1891 wollten sie das Jubiläum zum 700-jährigen Bestehen der Stadt Bern unbedingt mit den Feierlichkeiten zu 600 Jahren Eidgenossenschaft zusammenlegen – worauf der damalige Bundesrat kurzerhand 1291 als Gründungsjahr der Schweiz festlegte.

Auch wenn also die Gründung der Schweiz im kollektiven Bewusstsein auf den 1. August 1291 datiert wird, woraus unsere Nation auch im internationalen Vergleich ein einzigartiges, ja fast biblisches Alter ausweist, bildete sich erst zwei Jahrhunderte später, im 15. Jahrhundert, erstmals eine eigenständige eidgenössische Identität heran.

Dazu haben auch wir Zürcherinnen und Zürcher beigetragen!

Zürich, Bern und Luzern mit ihren Städten konnten sich erfolgreich gegen Österreich-Habsburg mit seinen territorialen Ansprüchen durchsetzen. Mit der Eroberung des Aargaus, der habsburgischen Stammlande, resultierte 1415 erstmals die Konzentration eidgenössischer Herrschaft.

Es brauchte also die grossen, zusammenhängenden Territorien der Kantone Bern und Zürich, damit sich die Eidgenossenschaft als europäischer Kleinstaat auf Dauer behaupten konnte.

In der Folge war die Schweizer Geschichte geprägt von Migrationsbewegungen und einer bis heute andauernden internationalen Verflechtung der Wirtschaftstätigkeit.

Es waren nicht nur die Eidgenössischen Offiziere und Soldaten, die für ausländische Mächte Dienste leisteten, es waren auch Schweizer Handwerker, Gewerbetreibende und Pädagogen, die zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert unser Land in grosser Zahl verliessen.

So belieferten Bündner Zuckerbäcker mit ihren Köstlichkeiten bis ins 19. Jahrhundert hinein die Herrschaften von Marseille bis nach St. Petersburg, oder Kaminfeger aus dem Misox waren im 18. Jahrhundert aufgrund ihrer Handwerkskunst sehr gefragt in der aufstrebenden Metropole Wien.

Zugleich waren wir seit jeher wirtschaftlich sehr international unterwegs. Gerade die heute stark abgeschottete Schweizer Landwirtschaft betrieb erfolgreich Handel mit Vieh und Käse, Exportschlager war  Greyerzer Käse.

Dank den hugenottischen Immigranten in der Romandie wurde die Schweiz Vorreiterin im Baumwollhandel und in der Herstellung und im Export von Uhren und Schmuck.

Geschätzte Festgemeinde, auch an unserem Nationalfeiertag sollten wir nicht vergessen, dass die Schweiz lange Zeit das Bild eines losen Verbundes abgab – bis ins 19. Jahrhundert bildeten primär die Kantone das staatlich-institutionelle Fundament unseres Landes.

Fahnenburg am Bürkliplatz an der Landesausstellung von 1939. (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

Und wir sollten auch nicht vergessen, dass nach Napoleons militärischer Niederlage reaktionäre, rückwärtsgewandte Strömungen die Kantone Aargau, Waadt, Thurgau, St. Gallen, Graubünden und Tessin wieder zu Untertanengebieten machen wollten – jene Kantone also, die erst 1803 infolge der Mediationsakte gegründet worden waren.

Allein die Garantie der Grossmächte gegenüber den neu entstandenen Kantonen verhinderte einen innerschweizerischen Bürgerkrieg zwischen reaktionären Kräften und den jungen Kantonen, die um ihr Überleben kämpften. Und es waren auch die Grossmächte, die am Wiener Kongress 1815 der Schweiz eine völkerrechtliche Garantie für ein eigenes Staatsgebiet zusicherten und unser Land zur immerwährenden Neutralität verpflichteten.

Die wichtigste zeitliche Wegmarke in diesem historischen Rückblick stellt aber das Jahr 1848 dar, als die Schweizerische Eidgenossenschaft nach dem Sonderbundskrieg durch die Annahme einer Bundesverfassung in den bis heute existierenden Bundesstaat umgewandelt wurde.

1848 ist also das Geburtsjahr der modernen Schweiz, wie wir sie heute kennen.

Wir feiern damit – je nach historisch-politischer Deutung – den 727sten Geburtstag, oder auch «nur» den 170sten Jahrestag unseres Landes.

Seit 1848 hat der wirtschaftliche  Erfolg der Schweiz rasant Fahrt aufgenommen.

Unser stetig steigendes Wohlstandsniveau über viele Jahrzehnte hinweg war wesentlich zurückzuführen auf den Aufbau bis heute führender Bildungsinstitutionen (1855 Gründung des Polytechnikums, der heutigen ETH), auf die Abschaffung der kantonalen Zollschranken und auf den föderalistischen Wettbewerb zwischen den Kantonen, die Einführung des Frankens als Einheitswährung und vor allem auch auf die Internationalisierung der unternehmerischen Tätigkeit, eine ausgeprägte wirtschaftliche Weltoffenheit, die uns bis heute charakterisiert.

Unser Land wies bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts neben den Niederlanden die höchste Exportorientierung Europas aus. Das beweist die frühe Fähigkeit der Schweiz, den kleinen, begrenzten Binnenmarkt mit der Expansion ins Ausland zu kompensieren. Dabei ist unser Land nie stehen geblieben, sondern hat sich immer wieder schrittweise, manchmal auch nur schrittchenweise, mit Erfolg nach vorne bewegt. Die Summe der Exporte von Waren und Dienstleistungen macht heute zusammen mit den Vorleistungen mittlerweile 70% des Bruttoinlandprodukts aus – eine eindrückliche Zahl!

Auf diese Leistungen können wir berechtigterweise stolz sein, weil diese wirtschaftliche Weltoffenheit nicht nur für wenige, sondern für breite Kreise der Bevölkerung Wohlstand gebracht hat. Dieser über Jahrzehnte erarbeitete Wohlstand ist der gesellschaftliche Kitt, der unser Land zusammenhält, der breite Wohlstand ist für die soziale Kohäsion in unserem vielsprachigen Land wohl entscheidender als zahlreiche helvetische Mythen.

Ist unser hart erarbeiteter Schweizer Wohlstand heute aber gefährdet?

Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist die Welt dynamischer, komplexer und zugleich unberechenbarer geworden – und unser mit den europäischen Ländern und der Welt wirtschaftlich eng vernetztes Land ist direkt davon betroffen.

Mittlerweile ist die multipolare Welt Realität, geostrategische Machtverschiebungen sind im Gange, westliche Demokratien befinden sich nicht mehr automatisch auf der Siegerstrasse.

Diese neue Weltordnung kann bisweilen beängstigend sein – kein Wunder, löst sie hierzulande mehrschichtige Abwehrreflexe aus.

Doch wie soll unser Land auf diese epochalen Veränderungen reagieren? Reicht der stolze Blick zurück auf unsere Errungenschaften, oder ist nicht vielmehr der Blick nach vorne notwendig, um den Wohlstand für die Zukunft zu sichern?

Meine Überzeugung ist erstens, dass typisch schweizerische Errungenschaften auch in Zukunft unbedingt zu erhalten sind:

  • Dazu gehört der Föderalismus, die direkte Demokratie, das Engagement von uns Bürgerinnen und Bürgern für das Gemeinwesen, sei es in einem Verein, in einer Partei, in einem politischen Milizamt. Sie sind sinnstiftend und identitätsbildend für die meisten von uns.
  • Zu den Schweizer Errungenschaften gehört ebenso die über Jahrzehnte gewachsene Kultur der offenen Diskussion, die keine Diskriminierung und Verunglimpfung von Andersdenkenden zulässt.
  • Zu den traditionellen Errungenschaften gehört ebenso der Austausch von Wissen, Ideen, Gütern, Waren und Dienstleistungen über unsere Landesgrenzen hinweg, mit anderen Worten: die wissenschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Offenheit gegenüber der Welt.
  • Diese Errungenschaften, auch unsere politische Kultur, der Bürgersinn – sie sind nicht selbstverständlich. Sie mussten erkämpft understritten werden – und sie müssen weiterhin laufend gepflegt werden.

Meine Überzeugung ist zweitens, dass trotz der heute herrschenden spürbaren Verunsicherung das Verharren alleine im Altbekannten der falsche Ansatz ist.

Das Verwalten des Erreichten verstellt den Blick auf die Notwendigkeiten, auch wenn sie manchmal unbequem sind, auf die Risiken, vor allem aber auch auf die Chancen der Zukunft.

Persönlich bin ich drittens davon überzeugt, dass sich die Schweiz verstärkt mit dem Weg in die Zukunft beschäftigen muss, will sie den breit abgestützten Wohlstand bewahren. Wir müssen in unserem Land den Willen zu einem fundierten Zukunftsdiskurs wieder breiter abstützen.

Dazu gehört aber auch, dass wir aktuelle und vergangene Fehlentwicklungen konkret ansprechen, auch wenn es bisweilen weh tut oder Ärger auslöst.

Eine dieser Entwicklungen, die auch unter dem Gesichtspunkt der Wohlstandssicherung zunehmend Sorge bereitet, ist, dass mittlerweile ein veritabler Reformstillstand um sich greift. Überfällige Anpassungen, etwa im Bereich der Unternehmensbesteuerung oder der Altersvorsorge, kommen nicht voran. Gerade bei der Altersvorsorge frage ich mich, was es unserer Gesellschaft bringt, wenn finanzpolitisch immer mehr die Grossmutter gegen den Enkel ausgespielt wird.

Wenn man überhaupt einen Schritt weiter kommen will, geschieht dies durch Vermengung unterschiedlichster Reformbaustellen. Die unabdingbare Reform der Unternehmensbesteuerung und die dringliche Anpassung unserer Sozialwerke an die Bevölkerungsentwicklung werden miteinander vermischt.

Aber dieser realpolitische Kuhhandel kann nur ein temporärer Aufschub für die unausweichliche Reform der Altersvorsorge sein.

Im schlechtesten Fall werden wir direktdemokratisch geschulte Schweizer in unserer materiellen Entscheidungsfreiheit an der Urne über Gebühr eingeschränkt.

Offensichtlich ist, dass wichtige Reformen einen zunehmend schweren Stand haben.

Geschätzte Damen und Herren

Wir müssen achtgeben, dass der Ehrgeiz für Veränderung nicht auf der Strecke bleibt;

Wir müssen achtgeben, dass nicht immer mehr Verteilkämpfe den öffentlichen Diskurs dominieren und damit Neid und Missgunst Vorschub leisten.

Bereits heute liefern wir als Bürger auf jeden verdienten Franken mehr als 44 Rappen an Steuern, Gebühren oder sonstigen Abgaben an den Staat ab. Damit befinden wir uns mittlerweile in einer ähnlichen Kategorie wie Deutschland.

Und wir müssen unbedingt achtgeben, dass wir denErfolgspfeiler des Schweizer Wohlstands, die wirtschaftliche Offenheit, nicht aus den Augen verlieren.

Abschottung, Ab- oder Ausgrenzung oder gar der Rückzug ins Innere sind keine zukunftsfähigen Strategien für eine nachhaltige Wohlstandssicherung. Doch in der zukünftigen Rolle der Schweiz in dieser neuen multipolaren Welt zeigt sich unsere Nation höchst zerstritten: Wir werden uns nicht einig darüber, wie wir unsere Beziehungen zu den wichtigsten Handelspartnern, unseren Nachbarländern in der EU, ausgestalten wollen.

Und auch die Verbesserung des Marktzugangs für unsere Unternehmen, was nicht zuletzt einheimische Arbeitsplätze sichert, diese Verbesserung des Marktzugangs mit neuen Freihandelsabkommen wie etwa mit südamerikanischen Ländern, scheint kaum mehr möglich.

In der aussenwirtschaftspolitischen Ausrichtung der Schweiz ist ein Hang zum Stillstand feststellbar. Diese Tendenz zum Status quo trägt der unternehmerischen Dynamik kaum Rechnung.

Kaspar Villiger verortet in unserem Land ein breit verankertes Selbstbild als eine «Insel der Glückseligen». Zufriedenheit mit dem Erreichten ist gut, doch müssen wir aufpassen, dass wir darob nicht mehr den Mut verlieren, unbequeme Wahrheiten anzusprechen und Modernisierungen zeitgerecht einzuleiten. Auch in einem Land des Wohlstands wie dem unsrigen müssen hie und da liebgewordene Gewohnheiten abgelegt und Denkblockaden überstiegen werden, um weiterzukommen.

Wir sollten Warnleuchten, die bereits grell blinken, nicht einfach ignorieren. So ist etwa die relative Arbeitsproduktivität unseres Landes (eine Kennzahl, die entscheidend ist für unseren Wohlstand und die aussagt, wieviel wir pro Arbeitsstunde herstellen), diese Kennzahl ist im Vergleich zu unseren Hauptkonkurrenten klar rückläufig.

In der Vergangenheit haben wir immer mehr Arbeit und Kapital in die Herstellung von Gütern und Dienstleistungen gesteckt.

Doch diese Strategie wird auf Dauer nicht aufgehen, wenn man bedenkt, dass der Schweizer Arbeitsmarkt – ohne Migration – bis 2035 um mehr als eine halbe Million Menschen schrumpfen wird. Unsere Pro-Kopf-Einkommen werden entsprechend unter Druck geraten. Sie und ich werden es in unseren Portemonnaies spüren, wenn wir nicht bald etwas unternehmen.

Hat die Schweiz Zukunft?

Ja sie hat Zukunft!

Wenn sich unser Land für die Zukunft rüsten will, muss sie heute eine ehrliche Diskussion über den wirtschaftlichen und politischen Weg der nächsten Jahrzehnte führen und vor allem auch darüber, was an Erneuerungen einzuleiten ist, um langfristig den Wohlstand und damit die soziale Kohäsion zu sichern.

Der notwendige und breit zu führende Zukunftsdiskurs soll nicht von vorneherein dogmatisch fixiert sein. Verschiedene «Zukünfte»sind durchaus möglich.

Wir müssen offen und in einer fairen demokratischen Ausmarchung diskutieren, welche Ziele am höchsten zu gewichten sind:

Das betrifft Fragen zur nationalstaatlichen Souveränität ebenso wie die Frage, wieviel Eigenverantwortung wir zulassen möchten und wieviel Umverteilung wir brauchen, beziehungsweise wieviel davon wir auf Dauer finanzieren können. Es betrifft Fragen, wieviel wirtschaftliche Öffnung im Zeitalter der Globalisierung zur Wohlstandssicherung nötig ist, oder umgekehrt, wieviel Abschottung wir uns leisten können. Fragen aber auch, wieviel Migration für die Wohlstandssicherung nötig – und wieviel für die Bevölkerung tragbar ist.

Bei der Klärung dieser Fragestellungen werden wir am Anfang nicht alle gleicher Meinung sein. Selbstverständlich werden je nach Interessenlage, persönlicher Überzeugung und Wertehaltung die grundlegenden Fragen zur Weiterentwicklung unseres Staatswesens anders beurteilt.

Am Schluss aber sollte direktdemokratisch, gut-schweizerisch entschieden werden, welchen Weg unser Land einschlagen soll.

In der Präambel der Bundesverfassung von 1999 finden sich Formulierungen wie «erneuern», «Errungenschaften» und «Verantwortung gegenüber künftigen Generationen».

Davon sollten wir uns auch leiten lassen bei der Diskussion darüber, welchen Weg die Schweiz in Zukunft gehen soll.

Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen allen einen wunderbaren 1. August!