Jedes für Zuwanderung offene, aber diese gleichwohl kontrollierende Land steht vor der Frage, nach welchen Regeln es die Einwanderer auswählen soll. Jenseits aller Eigenarten und Unterschiede stellen alle Länder bei der wirtschaftlich motivierten Migration gewisse Anforderungen an die Migranten. Im Vordergrund stehen folgende Kriterien:

_ der Beitrag an Einkommen und Wohlstand des Empfängerlandes
_ Kompetenzen, die auf dem Arbeitsmarkt des Empfängerlandes fehlen
_ Fähigkeit und Wille zur gesellschaftlichen Integration

Das EU-Prinzip der Personenfreizügigkeit ist weltweit einzigartig, regeln doch die meisten Länder die Zuwanderung mehr oder weniger strikt. Auch die EU-Länder beschränken die Zuwanderung aus Drittstaaten streng. Und selbst im EU-Innenverhältnis ist die Freizügigkeit nur scheinbar regellos: die EU delegiert die Auswahl der Migranten an die Unternehmen, wodurch die beiden ökonomischen Kriterien faktisch stärker gewichtet werden als das dritte. Allerdings belegen Studien, dass Arbeitsmarkt- und Integrationsfähigkeit verbunden sind, wenn auch nicht vollständig. Indem es der einzelnen Firma überlassen wird, wen sie anstellt und wen nicht, erfolgt die Auswahl aus dem Talentpool dezentral.

Punktesysteme sind eine Möglichkeit unter vielen, potenzielle Zuwanderer aus dem Talentreservoir auszuwählen. Der entscheidende Unterschied zur Personenfreizügigkeit im Sinne der EU besteht darin, dass sie zentral festgelegt und geführt werden. Diesbezüglich ist das Punktemodell der Freizügigkeit völlig entgegengesetzt. In der Reinform tritt eine politisch-administrativ festgelegte Liste von einfach beobachtbaren Merkmalen (wie Bildung, Sprachkenntnisse und Alter) an die Stelle der nachfragenden Unternehmen. Nicht die einzelne Firma wählt die Zuwanderer aus, sondern ein anonymes Tool. Während bei der EU-Personenfreizügigkeit die Unternehmen direkt jene Arbeitskräfte suchen, die sie brauchen, wird unter einem Punktesystem der Arbeitskräftepool eines Landes zuerst mit Arbeitskräften ergänzt, die eine Kombination von definierten Voraussetzungen bestmöglich erfüllen, unabhängig davon, ob sie schon eine Stelle haben oder nicht. Und die Unternehmen können dann aus diesem erweiterten Pool auswählen.

Der unbestrittene Charme von Punktesystemen

Punktesysteme üben auf Politik und Öffentlichkeit in vielen Ländern einen grossen Charme aus. Eine Einwanderungspolitik nach Punkten wurde vor und nach der Abstimmung über die «Masseneinwanderung» denn auch in der Schweiz als prüfenswerte Variante ins Spiel gebracht. Das kommt nicht von ungefähr, denn die Vorteile scheinen auf der Hand zu liegen. Erstens geben Punktesysteme klare und transparente Kriterien vor, die online in Sekundenschnelle für jedermann einsehbar und nachvollziehbar sind. Die Zählweise ist einfach und «objektiv», was die Akzeptanz fördert. Trotzdem sind Punktesysteme – zweitens – flexibel anpassbar, sowohl was die geforderten Kriterien als auch was deren Gewichtung betrifft. Sie können sogar ohne grossen Aufwand an Spezialsituationen angepasst werden, etwa wenn bestimmte Fähigkeiten oder Berufe besonders gefragt sind. Es kann mit ihnen sogar Regionalpolitik betrieben werden, indem man Sonderpunkte für die Bereitschaft vergibt, in Randregionen zu arbeiten. Drittens können sie mit variablen Mengenvorgaben (Kontingenten) verknüpft werden, indem das zu erreichende Punkteminimum periodisch angepasst wird. Auch die Integrationsfähigkeit (nicht jedoch der Wille dazu) wird über das Gewicht der Sprachkenntnisse berücksichtigt. Und – last but not least – können ihnen auch Ökonomen und Wirtschaftspolitiker Gutes abgewinnen. Der Kriterienkatalog liest sich fast wie das Variablenset einer einfachen Lohnfunktion, d. h. einer Gleichung, die individuelle Löhne mit lohnbestimmenden Faktoren erklärt. Deshalb erscheint ein gut ausgestaltetes Punktesystem als flexibel einsetzbares Werkzeug, um die Humankapitalbasis eines Landes gezielt zu stärken und zu verbreitern. Zudem könnte dieses Instrument als lernendes System ausgestaltet werden: Auf Basis der vorangegangen Erfahrungen (Back-Testing) können die Kriterien und Gewichte überprüft und gegebenenfalls angepasst oder verfeinert werden. Summa summarum scheinen Punktesysteme den einfachen Vergabeinstrumenten wie Verlosungen oder «First-come-first-served» haushoch überlegen zu sein.

 Firmen sind die besseren Selektionäre

Die hohen Erwartungen an Punktesysteme halten der Realität allerdings nicht ganz stand. Die langjährigen Erfahrungen Australiens und Kanadas zeigen, dass die erhofften Vorteile nicht oder nur teilweise realisiert werden konnten, vor allem im Vergleich mit direkt von den Arbeitgebern ausgewählten Zuwanderern. Sechs Monate nach der Visumserteilung hatten 20% der Arbeitskräfte, die von 2008 bis 2010 nach dem Punktesystem nach Australien einwandern durften («pointstested migrants»), noch keinen Job. In der Vergleichsgruppe in der die Zuwanderer arbeitsmarktgetrieben ausgewählt wurden («Employer Nomination Scheme»), waren es hingegen nur 6 %. Diese Gruppe besass zudem eine wesentlich höhere Wahrscheinlichkeit, einer qualifizierten Arbeit nachzugehen, und verdiente im Mittel ein Drittel mehr. In Kanada betrug die gleiche Lohndifferenz in der Einwanderungskohorte 2003 sogar 100 %, und dieser Unterschied war auch Jahre später nicht verschwunden.

Diese Fakten werfen ein Licht auf die Schwachpunkte von Punktemodellen. Zuvorderst steht der Umstand, dass Zuwanderer nach Punkten – systembedingt – meist noch keinen Job im Zielland haben. Sie müssen sich auf dem neuen Arbeitsmarkt erst bewähren. Wie die Zahlen aus Australien und Kanada zeigen, gibt es aber keine Garantie, dass die Jobsuche erfolgreich sein wird, auch wenn die Einwanderer über gute formale Qualifikationen verfügen. Ein gesondertes Problem liegt darin, dass formale Abschlüsse nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden können. So wird ein «Bachelor-Degree» einer Eliteuniversität auf dem Arbeitsmarkt unter Umständen mehr wert sein als ein Master-Abschluss einer mittelmässigen Universität. Letztlich müsste man dem Punktesystem also ein internationales Hochschul-Rating unterlegen. Gerade mit Blick auf die Nachbarländer Deutschland und Österreich, die wie die Schweiz die duale Berufsbildung kennen, müsste man auch die Frage beantworten, wie ein anspruchsvoller Lehrabschluss oder eine höhere Berufsbildung im Verhältnis zu einem französischen Universitätsabschluss bewertet würden. Hinter diesen scheinbar technischen Gesichtspunkten verbergen sich die entscheidenden Stellhebel eines Schweizer Punktesystems.

Die zentrale Ursache für das nicht ganz befriedigende Abschneiden liegt aber wohl darin, dass Punktesysteme nur formale Abschlüsse und leicht erfassbare Fähigkeiten abbilden können. Referenzen aus früheren Jobs, informell erworbenes Wissen oder angeborene Fähigkeiten fallen unter den Tisch. Noch deutlicher zeigt sich diesem Schwäche von Punktesystemen bei den «Soft skills» wie Sozialkompetenz, Teamfähigkeit oder Führungsqualitäten. Diese individuellen Charakterzüge können letztlich nur im persönlichen Kontakt beurteilt werden, werden aber in der modernen Arbeitswelt immer wichtiger. Nicht umsonst messen ihnen Personalverantwortliche eine überragende Bedeutung bei.

Bürokratischer Kontrollaufwand und Wartefristen

Auch der administrative Aufwand eines Punktesystems sollte nicht unterschätzt werden. Es ist ein Leichtes, in einer Online-Erfassungsmaske einige Angaben einzutippen. Etwas ganz anderes ist es hingegen, diese Angaben zu überprüfen. Man wird nicht davon ausgehen können, dass die potenziellen Zuwanderer in jedem Fall wahrheitsgetreue Informationen liefern. So wird man Diplome, Arzt- und Arbeitszeugnisse einfordern und kontrollieren, ja sogar das Alter wird man mittels beglaubigten Geburtsscheinen aus allen Herren Ländern überprüfen müssen. Diese aufwändigen Kontrollen führten in Kanada zu langen Wartezeiten. Vom Zeitpunkt der ersten Bewerbung bis zur Verfügbarkeit für einen bestimmten Job verstrichen zeitweise bis zu 18 Monate. Diese Frist konnte zwar auf Drängen der Firmen verkürzt werden, das Grundproblem des ausufernden Kontrollaufwands ist jedoch kaum lösbar. Dazu kommt, dass die eintreffenden Anträge immer über einen gewissen Zeitraum gesammelt werden müssen, denn das geforderte Punkteminimum der Kontingentierung hängt auch davon ab, wie viele qualifizierte Bewerber sich melden.

 Der «Flaschenhals Punktesystem» hält Hochqualifizierte ab

Noch schwerer wiegt die Gefahr, dass die begehrten hochqualifizierten Arbeitskräfte durch bürokratische Prozeduren und lange Wartefristen abgeschreckt werden. Talente sind mobil und haben überall auf der Welt Opportunitäten. Das dürfte der Grund sein, warum auch Länder, die auf Punktesysteme setzen, parallel völlig unbürokratische Kontingente führen, die rein arbeitsmarktgetrieben funktionieren. Die spezialisierte Wirtschaft der Schweiz ist sehr ausgeprägt und mehr als andere Länder auf diese Spezialisten und Führungskräfte angewiesen. Sie steht nicht nur im «Kampf um die Talente», sondern auch im globalen Standortwettbewerb.

In diesem Zusammenhang sind die Erfahrungen Österreichs von Interesse. Dort wird seit 2011 ein Punktesystem geführt, das hochqualifizierten Arbeitskräften und solchen mit «Mangelberufen» ausserhalb der EU für ein halbes Jahr die Arbeitssuche erlaubt und im Erfolgsfall die Niederlassung in Österreich gewährt. Das Instrument erwies sich bisher als Ladenhüter. Im Jahr 2013 wurden 1177 Bewilligungen erteilt, was weit unter der angepeilten Zahl von 8000 liegt. Nur gerade 48 von diesen Zuwanderern waren besonders hochqualifiziert.

Es muss deshalb bezweifelt werden, dass sich die gesuchten begehrten Arbeitskräfte durch den «Flaschenhals Punktesystem» zwängen liessen. Viele von ihnen verstehen ein Engagement in der Schweiz denn auch als eine berufliche Station unter anderen und nicht als Schritt zur dauerhaften Niederlassung.

Unproduktiver Verteilkampf um Punkte

Auch am anderen Ende des Qualifikationsspektrums könnte ein Punktesystem Probleme schaffen. Neben den Hochqualifizierten hat die Schweiz Bedarf an Arbeitskräften, die einfache Arbeiten ausführen, z. B. in der Landwirtschaft, im Bau sowie teilweise im Gastgewerbe und im Tourismus. Zudem herrscht auch Mangel an mittleren Qualifikationen (Facharbeiter), zum Beispiel in der Metall- und Maschinenindustrie. Ein auf hohe Qualifikationen ausgerichtetes Punktesystem würde diese Leute benachteiligen oder sogar ganz vom Schweizer Arbeitsmarkt fernhalten.

Auch wenn ein Punktemodell flexibel genug wäre, um allen diesen Bedürfnissen gerecht zu werden, sei es über die Vergabe von Sonderpunkten für spezielle Tätigkeiten oder separaten, nach Punkten geführten Kontingenten, stellt sich die Frage, was damit gewonnen wäre: Mit der Möglichkeit solcher Anpassungen würde man den unproduktiven Verteilkampf um kontingentierte Arbeitskräfte einfach auf die technische Ebene von Punkten und Gewichten verlagern. Er wäre deswegen aber nicht weniger kostspielig.

Punktesysteme sind nicht auf Rekrutierung zugeschnitten

Diese Überlegungen zeigen, dass ein Punktesystem die Ansprüche der Schweizer Wirtschaft an die Zuwanderung nicht lösen kann. Diese Ansprüche bestehen darin, Knappheiten auf verschiedenen Qualifikationsstufen und in bestimmten Berufen schnell, unbürokratisch und zielgenau zu beheben. Mit anderen Worten: Der Zweck der Schweizer Migrationspolitik war und ist die Rekrutierung von geeigneten Arbeitskräften. Punktesysteme sind hingegen eher für grosse Staaten geeignet, die ihre Bevölkerungs- und Humankapitalbasis mittels dauerhafter Einwanderung und auf lange Frist erweitern möchten. Diese Länder betreiben letztlich Bevölkerungspolitik. Genau dies ist nicht das Ziel der Schweiz.

Mehr zu diesem Thema finden Sie in der Publikation «avenir spezial: Gelenkte Zuwanderung».