Endlich ist das «Schmierentheater» – man muss es so sagen – um die Besetzung der Regierung vorbei. Man hätte meinen können, die Zukunft der Schweiz stehe auf dem Spiel. Das ist zum Glück wegen einer Bundesratswahl nicht so schnell der Fall. Die personelle Zusammensetzung der Exekutive ist zwar nicht unwichtig, aber matchentscheidender sind Kontinuität, Stabilität und breite Abstützung der Regierung im Parlament.
Diesbezüglich wurden, gleich, wie man zur SVP steht, mit der Zuteilung von nur einem Bundesrat an die wählerstärkste Partei und der Berücksichtigung einer Splitterpartei ohne Profil Fehler begangen. Aber das politische System wird sie verkraften. Jedenfalls wäre es jetzt Zeit, Rache und Ranküne beiseitezulegen. Die Probleme sind gross, die Krise ist noch lange nicht überwunden, weder die Finanz- noch die Wirtschafts- und erst recht nicht die Eurokrise. Und wenn rings um die Schweiz die Wogen hochgehen, wird das kleine Land mittendrin nicht ungeschoren davonkommen.
Besser, am besten
Das ist vielleicht noch nicht überall angelangt, aber Schadenfreude ob des europäischen Desasters ist unangebracht, und ebenso Resignation. So bleibt nichts anderes, als das Haus in Ordnung zu halten, besser als die Nachbarn und noch besser als bisher. Zu Reformen in den Bereichen, in denen man halbwegs selbst bestimmen kann, gibt es keine Alternativen.
Nicht wirklich selbst bestimmen kann man den Kurs des Frankens, der dank der Unabhängigkeit der Nationalbank zum Glück der Politik weitgehend entzogen ist. Wechselkurspolitik kann man nur betreiben, indem man die Kapitalverkehrsfreiheit oder die Preisstabilität aufgibt, beides Pluspunkte der Schweiz. Einzig im derzeit deflationsanfälligen Umfeld kann die Gratwanderung mit einer deklarierten Eurountergrenze einigermassen gutgehen. Es braucht jedoch Wachsamkeit, um den Zeitpunkt nicht zu verpassen, von der Halbanbindung an den Euro zu einem flexiblen Wechselkurs zurückfinden.
Weit vorne in einer zukunftsträchtigen Wirtschaftspolitik steht angesichts einer Zwangsabgabenquote von über 40% die Steuerpolitik, wo die Schweiz mit dem internen Steuerwettbewerb ziemlich einzigartig – und erfolgreich – dasteht. Ihn sollte man stärken, statt ihn durch Vorstösse wie die auch rechtsstaatlich und unter dem Aspekt des Äquivalenzprinzips fragwürdige Erbschaftssteuerinitiative zu schwächen.
Von erstrangiger Bedeutung ist sodann die Reform der Unternehmenssteuer. Hier muss man dringend eine Lösung finden, die aufhört, ausländische Erträge von Spezialgesellschaften anders zu behandeln als inländische. Und: Mit einem Einheitssatz für die Mehrwertsteuer und der Eliminierung vieler Ausnahmen könnte die Schweiz punkten und Reformfähigkeit demonstrieren, obwohl dies offenbar auch das neue Parlament nicht sehen will.
Die Haushaltpolitik zählt dank der Schuldenbremse zu unseren Trümpfen – allerdings mit der grossen Schwachstelle der Sozialwerke. Hier ebenfalls Schuldenbremsen einzubauen, ist ein Gebot der Stunde, ebenso die Entpolitisierung (und Automatisierung) der Anpassung der Rentenparameter an die ökonomischen Realitäten. Dabei darf die Erhöhung des Rentenalters kein Tabu bleiben. Vom volkswirtschaftlichen Gewicht, von der impliziten Verschuldung her ist die Reform der sozialen Sicherung die Herkulesaufgabe, ob der Langsamkeit politischer Prozesse weit über die Legislaturperiode hinaus.
Wichtig wäre auch mehr Kostenwahrheit im öffentlichen Sektor, etwa eine höhere Beteiligung der Studierenden an ihren Ausbildungskosten (kombiniert mit einem System von Sozialstipendien und verzinslichen Darlehen) oder ein nach zeitlicher und räumlicher Inanspruchnahme differenziertes Mobility Pricing im privaten und im öffentlichen Verkehr. Ins gleiche Kapitel gehören Anstrengungen zu mehr Wettbewerb im Service public sowie weitere Privatisierungsschritte, etwa bei der Swisscom und den kantonalen Stromversorgern.
Die Energiepolitik sollte von ihrer populistischen Einäugigkeit wegkommen, getreu der Erkenntnis, dass man immer nur eine Optimierung von Nutzen, Kosten und Risiken anstreben kann. Wohlstand und Lebensqualität, die Risiken jeglicher Energieart sowie die Belastungen für Klima und Umwelt stehen im Konflikt. Nachhaltig und menschengerecht kann nur eine Politik sein, die keine dieser Dimensionen absolut setzt.
Die Schweiz ist stets gut gefahren mit dem Verzicht auf die explizite Förderung von Branchen. Wo sie dem untreu geworden ist, wie in der Landwirtschaft und im Tourismus, ist das mit gesamtwirtschaftlichen Wohlstandsverlusten verbunden. Umso erschreckender ist, wie sich die Politik nun von industriepolitischen Schalmeien der Marke Cleantech einlullen lässt, bis hinauf zum Bundesrat. Sie würde besser Kostenwahrheit herstellen, Emissionskosten internalisieren und auf die Nachfrage der Konsumenten und das Gewinnstreben der Unternehmer bauen. Diese wissen besser als alle Kommissionen, Experten und Ämter, die gerne lenken möchten, wo die Chancen von morgen liegen und in welche Richtung nach Innovationen gesucht werden sollte.
Zu den Vorzügen der Schweiz gehört seit Jahrzehnten ihr recht flexibler Arbeitsmarkt. Mit der Personenfreizügigkeit wurde die Flexibilität um die Dimension der Offenheit gegenüber der EU ergänzt, zugleich allerdings leider – als politisches Kompensationsgeschäft gegenüber Gewerkschaften und Gewerbe – mit den flankierenden Massnahmen etwas eingeschränkt. Man sollte diese wenigstens möglichst zurückhaltend anwenden.
Arbeitsmarkt offen halten
Ferner wird man Initiativen zur Beschränkung der Zuwanderung abwehren müssen, aber nicht indem man die Ängste der Bevölkerung bagatellisiert, sondern indem man sie ernst nimmt. Schliesslich wird es auch in der neuen Legislatur um die Rolle der Schweiz in der Welt gehen.
Wir werden nicht darum herumkommen, die institutionellen Fragen mit der EU rasch zu klären. Nur so dürfte es möglich sein, viele Vorteile des bilateralen Weges und unsere erfolgreiche SemiAutonomie zu wahren. Dafür wird man allenfalls sogar Abstriche an Souveränität in Kauf nehmen müssen. Gleichzeitig wird die Schweiz mit Freihandelsabkommen, der Mitwirkung in internationalen Organisationen und der Fortführung des multilateralen Freihandels dafür sorgen müssen, dass sie sich noch stärker von der EU emanzipieren und die Karte des kleinen, offenen und unabhängigen Landes spielen kann.
Politisch einfach wird all das nicht sein, aber wir haben die Politiker nicht gewählt, damit sie uns sagen, was politisch machbar ist, sondern damit sie das politisch machbar machen, was zur nachhaltigen Sicherung des Wohlstands nötig ist.
Dieser Artikel erschien am 24. Dezember 2011 in «Finanz und Wirtschaft».