Mauerblümchen

Gelebte Bescheidenheit hat viele Vorteile. Gelegentlich führt sie dazu, dass man unterschätzt wird; das ist selten ein Nachteil. (Bild: Fotolia)

Man mag angesichts mancher Lohnexzesse in Grosskonzernen und der noch immer nicht ganz überwundenen Selbstüberschätzung im Bankensektor protestierend den Kopf schütteln, und doch ist es wahr: Bescheidenheit ist ein traditioneller helvetischer Wert, und wie der Bürgersinn und die Offenheit ist sie eine der Grundvoraussetzungen für das schweizerische Erfolgsmodell.

Die Bescheidenheit, die lange Zeit das Markenzeichen der Schweiz war, kam freilich nicht von ungefähr. Kleinen Ländern sind Grossmachtallüren ohnehin meistens fremd, oder sie werden ihnen rasch ausgetrieben. Überdies war die Schweiz lange ein armes Land, ohne Erze, Erdöl oder Kolonien. Eine Überheblichkeit konnte sich so nie wirklich entwickeln. Bescheidener Wohlstand war zwar möglich, musste aber hart erarbeitet werden. Das «Sein» war den Schweizern daher lange wichtiger als der «Schein». Die Zurschaustellung von Reichtum war verpönt.

Solche echte und gelebte Bescheidenheit hat viele Vorteile. Sie verhindert Verschwendung, sie gibt Glaubwürdigkeit, schafft Vertrauen und sie führt gelegentlich dazu, dass man unterschätzt wird; das ist selten ein Nachteil. Überdies trägt die Bescheidenheit wesentlich zum Zusammenhalt der Gesellschaft bei.

Es gibt also viele gute Gründe, sich wieder vermehrt auf die Tugend echter Bescheidenheit zu besinnen. Eines sollte man ohnehin nie vergessen: Fast alles, was gelingt, ist praktisch nie nur das Verdienst eines Einzelnen. Zum einen spielt der Zufall eine Rolle. Zum anderen ist jedes Individuum eingebettet in ein soziales Netz, beruflich und privat, ohne das seine Leistung kaum möglich wäre. In Bert Brechts berühmtem Gedicht «Fragen eines lesenden Arbeiters» heisst es an einer Stelle «Cäsar schlug die Gallier – hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?» Auch die modernen Cäsaren der Wirtschaft neigen gelegentlich dazu, diese Zusammenhänge zu vergessen.