Als «Rosinenpicken» bezeichnen deutsche Wörterbücher «das egoistische Bemühen,  sich von etwas Bestimmtem nur die attraktivsten Teile zu sichern, um die eher unattraktiven anderen zu überlassen». Dieses Verhalten wird der Schweiz gerne in der Europa-Politik vorgeworfen. Wann der Vorwurf aufgekommen ist, lässt sich nicht mehr genau feststellen. Während der 1990er Jahre, als die Schweiz gegenüber den EU-Mitgliedstaaten wachstumsmässig zurückhing, war davon kaum die Rede. Heute aber scheint der Vorwurf  – vor dem Hintergrund der Euro-Staatschuldenkrise und nach Anrufung der Ventilklausel durch den Bundesrat – Hochkonjunktur zu haben.

Auch Briten sind «Rosinenpicker»

Laut EU-Parlament trägt die Schweiz die Last Europas nicht voll mit und gebärdet sich mit der Anrufung der Ventilklausel als «Rosinenpicker». Der EU-Steuerkommissar Algirdas Semeta erwartet von der Schweiz in der Steuerpolitik und beim automatischen Informationsausausch von Bankdaten Zugeständnisse, weil sie stark vom EU-Binnenmarkt profitiere und ein Abseitsstehen von der Bewegung zu mehr Transparenz nicht verstanden würde. Immerhin: Nach der europapolitschen Grundsatzrede des britischen Premierministers David Cameron im Januar dieses Jahres steht die Schweiz nicht mehr ganz allein auf der Anklagebank. Der deutsche Aussenminister Guido Westerwelle quittierte Camerons Votum für Reformen kurz und bündig: «Eine Politik des Rosinenpickens wird nicht funktionieren».

Doch hat der Vorwurf des «Rosinenpickens» im bilateralen Verhältnis Schweiz/EU aus ökonomischer Sicht überhaupt eine Berechtigung?

  1. Stellt man auf die klassische Aussenhandelstheorie ab, führt der freie internationale Handel für alle beteiligten Länder (und Individuen) zur Wohlfahrtsmehrung. Diese wird im Wesentlichen auf drei Effekte zurückgeführt:  Die Spezialisierung, die Ausweitung der Konsummöglichkeiten und die Förderung der Innovation durch den Wettbewerb. Diese Vorteile gelten unbesehen der Grösse der beteiligten Länder. Deshalb sind der WTO (ebenso wie früher dem GATT)  Kompensationszahlugen kleiner Länder, die über die Meistbegünstigunsklausel Zugang zu grossen Märkten erhalten, fremd. Diese Überlegungen lassen sich genauso auf das Freihandelsabkommen Schweiz/EU (1972)  und die Bilateralen Abkommen I (1999) und II (2004) übertragen. Die Behauptung, die Schweiz würde vom Binnenmarkt übermässig profitieren, ist von daher ohne Substanz.
  2. Geht man von der merkantilistischen Lehre aus – die der EU nicht ganz fremd ist -, wonach eine aktive Handelsbilanz etwas Positives sei, zielt der Vorwurf des «Rosinenpickens» vollends ins Leere. Die EU erzielt nämlich im Handel mit der Schweiz traditionell einen Überschuss von jährlich zwischen 20 und 30 Mrd. Fr.  Dabei kann sie sich erst noch darauf  verlassen,  dass ihr die Schweiz als solvente Schuldnerin keine Zahlungsschwierigkeiten bereitet.

Und wie sieht es politisch aus? Grundsätzlich ist es üblich, dass souveräne Länder in den Beziehungen zum Ausland immer versuchen, sich Vorteile zu verschaffen. Sie einigen sich nur dann freiwillig auf bilaterale völkerrechtliche Abkommen, wenn sie sich beide einen Mehrwert versprechen. Auch zwischen der Schweiz und der EU ist es zum heutigen Netz von vertraglichen Vereinbarungen  und Kooperationen nur deshalb gekommen, weil sich beide Partner davon einen Gewinn versprochen haben. Die EU ist nicht dafür bekannt, dass sie einseitige Konzessionen macht oder leichtfertig Hand  für À-la-carte-Lösungen bietet. Der Bilateralismus ist so gesehen  «Rosinenpicken» auf Gegenseitigkeit.

Friede als öffentliches Gut

Warum aber hält sich der Vorwurf des «Rosinenpickens» so hartnäckig? Zum einen spielt sicher mit, dass es der Schweiz heute wirtschaftlich besser geht als vielen EU-Mitgliedstaaten. Das weckt Neidgefühle. Zum andern  hängt  es wahrscheinlich damit zusammen, dass  das «Rosinenpicken» gerne mit dem Trittbrettfahren («free riding») gleichgesetzt wird, wie Rolf Weder und Beat Spirig in ihrem lesenswerten Buch «Von Rosinen und anderen Spezialitäten. Die Schweiz und die EU» darlegen.  Als Trittbrettfahrer wird bezeichnet, wer von einem sogenannten öffentlichen Gut (bzw. einer «positiven Externalität») profitiert, ohne einen angemessen Beitrag zu dessen Finanzierung zu leisten.

Welche öffentlichen Güter bietet die EU an, die für die Schweiz von besonderem Nutzen sind? Nicht in diese Kategorie gehört sicher der Euro.  Wegen ihrer engen internationalen Verflechtung spürt die schweizerische Volkswirtschaft  im Guten wie im Schlechten das Auf und Ab der globalen Konjunktur, ebenso wie die Schwankungen von Euro und Dollar. Von einer positiven Externalität des Euro kann angesichts der lang anhaltenden, weil strukturell bedingten Krise des Euroraums deshalb gewiss keine Rede sein.

Sehr wohl aber war das Projekt EU Ausdruck eines Willens zu dauerhaftem Frieden in Europa, und im Urteil vieler trägt die EU durch ihre blosse Existenz und ihre institutionelle Verflechtung zur Friedenssicherung  bei. Zudem hat sie nach dem Zusammenbruch des ehemaligen Ostblocks mit der Osterweiterung auch die politische Stabilität gestärkt. Zwar spielten auch die USA und die NATO eine vielleicht ebenso wichtige Rolle, aber die Schweiz honoriert diese Leistungen jedenfalls in Form der Kohäsionszahlungen. Die Schweiz muss sich somit wegen ihrer Europa-Politik keine Asche aufs Haupt streuen. Sie kann dem bilateralen Weg durchaus mit mehr Selbstbewusstsein folgen, und muss dabei kein schlechtes Gewissen haben.