Feierabend bedeutet doch Erholung? Nicht für die tausenden Milizpolitikerinnen und -politiker, welche sich nebenamtlich in den über 2100 Gemeinden der Schweiz engagieren. Für sie geht es regelmässig nach einem vollen Arbeitstag ins Gemeindeparlament oder an die Gemeinderatssitzung. Für Aussenstehende mag das schweizerische Milizsystem, wo lauter «Laien» politische Ämter bekleiden, ungewöhnlich erscheinen. Doch diese enge Verzahnung von Bürger und Staat trägt massgeblich zum Erfolg der Schweiz bei.
Das Milizsystem sorgt für praxisnahe, pragmatische Lösungen. Das ist den Wechselwirkungen zwischen Politik und Wirtschaft zu verdanken: Milizpolitiker bringen ihr berufliches Fachwissen direkt in die Politik ein, sei es als Handwerker, Lehrperson oder Führungskraft. Gleichzeitig fliessen die gesammelten politischen Erfahrungen in die Arbeitswelt zurück. Zudem verhindert das Milizsystem, dass sich Staat und Bevölkerung entfremden. Damit stärkt es das Sozialkapital der Schweiz, was unbürokratische Lösungen ermöglicht – wie beispielsweise die Covid-Kredite während der Pandemie zeigten.
Trotz seiner Vorteile steckt das Milizsystem jedoch derzeit in der Krise – vor allem auf kommunaler Ebene. Fast die Hälfte der Gemeinden hat Mühe, geeignete Personen für ihre Ämter zu finden. Die Frage drängt sich daher auf: Welche Rolle können Unternehmen spielen, um das Milizsystem zu unterstützen?
Zwischen Arbeitsbelastung und politischem Engagement
Ein Hauptgrund für den Mangel: Der Zeitaufwand für ein Exekutivamt ist gestiegen, was schwierig mit familiären und beruflichen Verpflichtungen zu vereinbaren ist. Das Präsidialamt in einer Gemeinde beansprucht im Durchschnitt rund 40 Stellenprozente, andere Exekutivämter rund 20 Prozent.
Zudem hat sich die Arbeitswelt in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Zwar sind die durchschnittlichen Arbeitsstunden pro erwerbstätige Person gesunken, doch nehmen immer mehr Personen am Erwerbsleben teil. So arbeiten beispielsweise Paarhaushalte durchschnittlich 59,4 Stunden pro Woche, während es vor der Jahrtausendwende noch 55 Stunden waren. Mit dem veränderten Familienbild und der neuen Rollenaufteilung im Haushalt wird es für viele zunehmend schwieriger, ein Milizamt engagiert auszuführen.
Hinzu kommen die gestiegenen Anforderungen der Berufswelt: Während die Produktivität stetig zunimmt, fühlt sich laut Umfragen ein wachsender Anteil der Arbeitnehmenden gestresst – zwischen 2012 und 2022 stieg dieser Anteil von 18 auf 23 Prozent. Unter solchen Bedingungen sinkt die Bereitschaft, neben der Berufstätigkeit auch noch ein mit hoher Verantwortung behaftetes Milizamt zu übernehmen.
Die Folgen sind spürbar: Die Funktionsfähigkeit des Milizsystems erodiert. In einigen Kantonen greifen Gemeinden zum umstrittenen Amtszwang. Andere Gemeinden treiben Fusionen voran, um politische Ämter als attraktive Teilzeitstellen anzubieten. Damit entwickelt sich das System aber schrittweise in Richtung einer Berufspolitik – mit weitreichenden Konsequenzen für die politische Kultur der Schweiz.
Unternehmen stehen in der Pflicht
Für Unternehmen bringt der Wandel am Arbeitsmarkt zunächst Vorteile: Effizienzsteigerungen, motivierte Mitarbeitende und dank der höheren Frauenerwerbsbeteiligung ein grösserer Pool an gut ausgebildeten Fachkräften. Während die Unternehmen von diesen Entwicklungen profitieren, leidet langfristig das Milizsystem darunter – und damit das Schweizer Erfolgsmodell.
Wenn Arbeitnehmende sich nicht mehr nebenberuflich auf politische Ämter einlassen, drohen die positiven Wechselwirkungen zwischen Politik und Wirtschaft zu verschwinden. Statt auf staatliche Lösungen zu warten, sollten Unternehmen daher selbst aktiv werden und zur Stärkung des Milizsystems beitragen. Einige tun das bereits: Sie ermöglichen flexible Arbeitszeiten, fördern Teilzeitarbeit oder stellen ihre Infrastruktur für politische Tätigkeiten zur Verfügung.
Doch das Potenzial ist noch nicht ausgeschöpft. Nur gerade einmal 20 Prozent ermutigen ihre Mitarbeiter aktiv zur Kandidatur für ein Milizamt. Dabei wäre laut Milizpolitikerinnen und -politikern eine stärkere Wertschätzung durch die Geschäftsleitung eine der wirksamsten Massnahmen, um Milizämter attraktiver zu machen.
Die Unterstützung und Förderung von miliztätigen Mitarbeitenden ist zwar in erster Linie ein wertvoller Beitrag an das Gemeinwohl – denn ein funktionierendes Milizsystem kommt der ganzen Gesellschaft zugute. Aber auch die Unternehmen selbst können von den wertvollen Erfahrungen der Milizpolitikerinnen und -politikern profitieren: Sie vertiefen ihr Fachwissen, bauen sich ein umfassendes Netzwerk auf, stärken ihre strategischen Fähigkeiten und erwerben Führungskompetenzen.
Die Unternehmen sollten das Milizsystem deshalb nicht als Belastung, sondern als Chance sehen. Und mit unterstützenden Arbeitgebern im Rücken haben auch Bürgerinnen und Bürger wieder vermehrt die Energie, sich nach Feierabend noch für das Gemeinwohl zu engagieren.
Dieser Beitrag ist in der Frühjahrsausgabe des Magazins «twice» der Handelskammer beider Basel erschienen.