In der Schweiz ist zunehmend von einem Fachkräftemangel im Bereich psychischer Gesundheit die Rede. Gesprochen wird von einem zunehmend erschwerten Zugang zur psychiatrischen Versorgung. Tatsächlich deuten darauf die im Vergleich zu anderen Fachbereichen langen Wartezeiten. Eine Umfrage unter Fachärzten im Jahr 2024 zeigt: Von der Kontaktaufnahme bis zur Konsultation warten Erwachsene im Schnitt 41 Tage, Kinder- und Jugendliche sogar 56 Tage. Zum Vergleich: In anderen Bereichen der ambulanten Medizin – etwa in der allgemeinen Chirurgie – beträgt die Wartezeit rund 9 Tage, in der Onkologie 7 Tage. Nur in der Endokrinologie und Diabetologie sind die Wartezeiten mit rund 71 Tagen noch höher. Sind die langen Wartezeiten auf ein sinkendes Angebot in der Psychiatrie zurückzuführen?
Internationale Spitzenwerte bei der Psychiater-Dichte
Während im Jahr 2000 schweizweit 2017 Psychiater praktizierten, waren es im Jahr 2022 bereits 4672 – ein Zuwachs von ca. 132%. Im gleichen Zeitraum ist allerdings auch die Schweizer Bevölkerung um rund 1,8 Millionen Einwohner gewachsen. Die Psychiater-Dichte stieg dennoch von 28 auf 53 pro 100’000 Einwohner. Damit hat sie sich in den letzten gut zwei Jahrzehnten nahezu verdoppelt. Wichtig dabei: Diese Zahlen beziehen sich ausschliesslich auf Psychiater. Psychologische Psychotherapeuten sind darin nicht enthalten.
Die Psychiater-Dichte ist im internationalen Vergleich sehr hoch (siehe Grafik 1). Sie liegt dreimal so hoch wie der OECD-Durchschnitt und deutlich über derjenigen der Nachbarländer: etwa doppelt so hoch wie in Deutschland und Frankreich, fast dreimal so hoch wie in Italien. Auch das Wachstum ist markant: Zwischen 2000 und 2022 wuchs die Psychiater-Dichte in der Schweiz jährlich um 2,2%, während Deutschland bei 1,0%, Italien bei 0,3% und Frankreich bei 0,2% lagen.
Zwar zählen die OECD-Daten lediglich Personen unabhängig vom Anstellungsgrad. Doch eine Studie im Auftrag vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) von 2015 berechnete auch die Anzahl Psychiater in Vollzeitäquivalenten (VZÄ): In der Schweiz entsprach die Anzahl Psychiater 40 VZÄ für 100’000 Einwohner. Damit bleibt die Dichte aber im Vergleich zu den Nachbarländern sehr hoch.
Starke kantonale Unterschiede
Die hohe nationale Psychiater-Dichte verschleiert grosse kantonale Unterschiede. Während im Kanton Obwalden 10 Psychiater pro 100’000 Einwohner praktizieren, sind es im Kanton Genf 99 und im Kanton Basel-Stadt sogar 123. Ein Röstigraben ist nicht zu beobachten: die Unterschiede deuten weniger auf sprachliche Aspekte, sondern auf den Urbanitätsgrad eines Kantons (siehe Grafik 2).
Bei kleinen Kantonen ist allerdings zu berücksichtigen, dass sie teils durch benachbarte Zentren mitversorgt werden. So ist beispielsweise denkbar, dass sich Personen aus den Kantonen Obwalden, Nidwalden oder Uri in Luzern behandeln lassen. Gerade für psychische Behandlungen liegt die Annahme nahe, dass manche Patienten die Anonymität ausserhalb ihres Wohnorts oder die Nähe zum Arbeitsplatz suchen.
Selbst in Kantonen mit tiefer Psychiater-Dichte liegt diese oft noch über dem OECD-Durchschnitt. Beispielsweise liegt die Dichte im Kanton Wallis und im Kanton Graubünden zwar deutlich unter dem Schweizer Durchschnitt, aber über jenem von Deutschland und Frankreich.
Den erschwerten Zugang besser verstehen
Die oft bemängelten Zugänge zu Psychiatern lassen sich auf nationaler Ebene nicht durch ein generell sinkendes Angebot erklären. Die Zahlen zeigen klar: Die Psychiater-Dichte ist in der Schweiz gestiegen – und im internationalen Vergleich sehr hoch. Regional ist das Bild differenzierter –in gewissen Kantonen ist das Angebot vergleichsweise klein.
Woran liegt also der erschwerte Zugang? Die Vermutung liegt nahe: an der steigenden Nachfrage. Dafür werden jeweils verschiedene Entwicklungen ins Feld geführt: der Einfluss sozialer Medien, die soziale Vereinsamung sowie die Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen und Therapien. Diese Trends gibt es aber ebenso in unseren Nachbarländern – und trotzdem weisen diese eine deutlich tiefere Psychiater-Dichte als die Schweiz auf.
Zu prüfen wäre daher, ob in der Schweiz ein überdurchschnittlich stark wachsendes Bedürfnis nach psychiatrischer Unterstützung besteht – oder ob strukturelle Mängel in der Organisation der Patientenversorgung bestehen, die dafür sorgen, dass das vorhandene Angebot nicht optimal genutzt wird. Ein besseres Verständnis dieser Besonderheiten der Schweiz ist nötig – bevor das Angebot flächendeckend ausgebaut wird. Ziel muss sein, psychiatrische Hilfe dort verfügbar zu machen, wo sie tatsächlich fehlt.