Am 23. Juni 2016 stimmten knapp 52% der Briten dem Austritt aus der EU zu. Durch den Brexit werden die Beziehungen zwischen den verbleibenden 27 EU-Staaten und dem Vereinigten Königreich neu definiert. Diese Reset-Taste muss auch die Schweiz betätigen, basieren doch die bisherigen Beziehungen mit Grossbritannien auf dem bilateralen Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU. Der wirtschaftliche Austausch ist eng. Mehr als 150 Flugverbindungen werden täglich zwischen der Schweiz und Grossbritannien angeboten. Die Schweiz stellt für Grossbritannien den drittgrössten Exportmarkt weltweit dar und ist ausserhalb der EU-Länder nach den USA der zweitgrösste Investor in Grossbritannien.

Der Brexit betrifft die Schweiz

2015 betrug der Bestand von Schweizer Direktanlagen im UK 51 Mrd. Fr., umgekehrt haben die Briten 31 Mrd. Fr. in der Schweiz investiert. Schweizer Unternehmen beschäftigen gegen 200’000 Personen in Grossbritannien. Dazu kommen enge Beziehungen in der Forschung. Die Schweiz und das UK sind die einzigen Staaten in Europa, deren Universitäten regelmässig in den globalen Top-10-Rankings aufgeführt sind. Über 40’000 UK-Bürger leben in der Schweiz, umgekehrt leben mehr als 33’000 Schweizer in Grossbritannien. Aufgrund der engen Verflechtungen zwischen den beiden Ländern hat der Brexit direkte ökonomische Auswirkungen auch auf die Schweiz.

«Warten auf Godot» ist für die Schweiz keine Option. (Wikipedia Commons)

Doch bekanntlich harzen die Brexit-Verhandlungen. Auch 16 Monate nach dem Brexit-Entscheid ist eine klare Verhandlungsstrategie der britischen Regierung nicht ersichtlich. Über das zukünftige Verhältnis zur EU gibt es in London fast so viele Meinungen wie Kabinettsmitglieder. Die EU hat durchgesetzt, dass zuerst der Austritt und dabei insbesondere die Knacknuss des Umfangs der eingegangenen finanziellen Verpflichtungen, die London anzuerkennen hat, verhandelt wird, und erst dann über die zukünftigen Beziehungen gesprochen werden kann. Für die Austrittsverhandlungen gilt eine Frist von zwei Jahren. Danach erlischt die Mitgliedschaft von Grossbritannien als austretendem Staat automatisch, unabhängig vom Verhandlungsstand – ausser der Europäische Rat verlängert den Verhandlungszeitraum einstimmig. Im Falle eines solchen abrupten Systemwechsels, dem «harten Brexit», könnte es zu chaotischen Zuständen kommen. Es gibt Befürchtungen, dass Flüge zwischen Grossbritannien und der EU nicht mehr stattfinden könnten und dass auch der Handel mit Pharmaprodukten eingestellt würde, weil die EU-Regulierungsstellen nicht mehr zuständig wären. Ganz zu schweigen von der Unklarheit über den Status der über 3 Mio. EU-Bürger in Grossbritannien und der 1,2 Mio. Briten in der EU.

Auch für die Schweiz ist die Ausgangslage delikat. Die angesprochenen Flugverbindungen basieren auf dem «Open Sky»-Abkommen der Schweiz mit der EU. Dazu kommt, dass Grossbritannien als Noch-EU-Mitgliedsstaat mit der Schweiz derzeit nicht formell über die künftigen Beziehungen verhandeln kann. Es können nur informelle Gespräche geführt werden. Ziel der Schweizer Verhandlungen muss sein, dass nach dem Austritt der Briten aus der EU die Beziehungen der Schweiz zu Grossbritannien auf dem bisherigen Niveau weitergeführt werden.

Keine deckungsgleichen Interessen

Trotz der intensiven Beziehungen der Schweiz zu Grossbritannien: der wirtschaftliche Austausch unseres Landes mit den verbleibenden 27 EU-Mitgliedstaaten ist ungleich bedeutender. Ungeachtet dieser Realitäten gibt es in der Schweiz Stimmen, die das weitere Verhältnis der Schweiz zur EU mit dem Ausgang der Brexit-Verhandlungen verknüpfen wollen in der Annahme, dass Grossbritannien ähnliche Interessen wie die Schweiz verficht. Vergessen wird darob, dass die Interessen Grossbritanniens und der Schweiz keineswegs deckungsgleich sind – oder braucht die Schweiz etwa ein Fischereiabkommen mit der EU? Dazu würde sich die Schweiz ins Fahrwasser der britischen Interessen begeben, was eines souveränen Staates unwürdig und angesichts der Konkurrenzsituation des Finanzplatzes London mit Zürich und Genf risikoreich ist.

Eine solche Verhandlungsstrategie mit Stillstandscharakter ruft unweigerlich Becketts Theaterstück «Warten auf Godot» in Erinnerung: Man kennt Godot nicht, weiss nichts Genaues über ihn, interpretiert mit zunehmender Warterei aber immer mehr in die unbekannte Person hinein. Letztlich gibt man sich unerfüllten Illusionen hin, anstatt aus eigenen Kräften und Überzeugungen seine Zukunft selbst zu gestalten.

Dieser Beitrag ist am 24. Oktober 2017 in den Printausgaben der «Luzerner Zeitung» und des «St. Galler Tagblattes» erschienen.