Die Bevölkerung wächst, die Zeichen der Zeit sollten erkannt und das eng gewordene Infrastrukturkorsett auf die 9-Millionen-Schweiz ausgerichtet werden. Die Voraussetzungen für mehr Investitionen im Inland stehen so günstig wie schon lange nicht mehr.
Wer durch die Schweiz fährt, ist je nach Sichtweise beeindruckt oder verärgert über die unzähligen Baustellen auf den Strassen und die Hochbauten, die wie Pilze aus dem Boden schiessen. Man wähnt sich in einem veritablen Investitionsboom. Ein Blick in die Statistik bestätigt diesen Eindruck vordergründig. Gemäss der Nationalen Buchhaltung wachsen die nominalen Bauinvestitionen rasch. Im letzten Jahr gegenüber dem Vorjahr um 4,7 Prozent, nachdem sie in den Vorjahren bereits um 2 bzw. knapp 4 Prozent zugelegt hatten. Auch real erfolgten trotz Wirtschaftseinbruch im Jahr 2009 solide Zuwächse. Bereits warnen Beobachter vor einer Überhitzung. Laut der Credit Suisse operiert die Bauwirtschaft an der Kapazitätsgrenze, und die Ampel des UBS-Swiss-Real- Estate-Bubble-Indexes steht auf Orange. Schon länger warnen SNB und Finma vor einer drohenden Investitionsblase; sie erhalten Sukkurs von der OECD und dem IMF.
Der Investitionsboom findet nicht statt
Ein Faktor wird dabei aber zu sehr ausgeblendet: das rasante Bevölkerungswachstum der letzten Zeit. Zwar scheint ein jährlicher Bevölkerungszuwachs von gut 1 Prozent nicht übermässig. Um das wahre Ausmass der Entwicklung zu erfassen, muss der Blick aber auf die absoluten Zahlen gelenkt werden. Seit 1997 ist die Bevölkerung um über 850 000 Einwohner gewachsen. Die Personenfreizügigkeit brachte eine nochmalige Beschleunigung: So betrug der mittlere jährliche Zuwachs nach 2002 mehr als 70 000 Personen, ab 2007 sogar rund 90 000 Personen. Jahr für Jahr stiess so eine Stadt in der Grösse St. Gallens neu zur Schweiz. Vor diesem Hintergrund müssen die Zahlen der Nationalen Buchhaltung anders interpretiert werden: Die Schweiz sollte nicht weniger, sondern mehr investieren. Obwohl 2007 eine sanfte Kehrtwende eintrat, sind die realen Bauausgaben der öffentlichen Hand pro Kopf der Bevölkerung seit 1995 rückläufig. Im Hochbau (Schulhäuser, Spitäler, Verwaltung usw.) zeigt sich dieser Trend noch ausgeprägter als im Tiefbau (Verkehrsinvestitionen). Zu bedenken ist weiter, dass diese Zahlen auch die Instandhaltungskosten der bestehenden Infrastrukturen enthalten. Mit steigendem Bestand nehmen diese Aufwendungen zu. Die öffentlichen Nettoinvestitionen dürften darum noch deutlicher abgenommen haben, als es der Verlauf der Bauausgaben nahelegt. Gemäss der OECD beträgt die Schweizer Nettoinvestitionsquote gegenwärtig weniger als 2 BIP-Prozent, ein international gesehen sehr tiefer Wert. Entgegen der landläufigen Wahrnehmung findet auch der Boom im Wohnungsbau nicht statt. Wenn man nicht die absolute Neubautätigkeit, sondern die relative Ausdehnung des Wohnungsparks zum Massstab nimmt, bewegen wir uns heute auf viel tieferem Niveau als vor 20 Jahren. Im Jahr 2010 betrug die prozentuale Bestandszunahme 1 Prozent, etwa gleich viel wie das Bevölkerungswachstum. Die Mehrnachfrage aufgrund steigender Einkommen lässt die Mieten steigen. Das Mehr an Menschen ist überall spürbar. Wo die Kapazitätsgrenze erreicht ist, können schon wenige zusätzliche Nutzer ein System zum Kippen bringen. So haben die Staustunden auf Schweizer Autobahnen von 2009 auf 2010 um 34 Prozent zugenommen. Im öffentlichen Verkehr konnte die Mehrnachfrage durch verdichtete Fahrpläne zwar abgefedert werden, trotzdem sind Qualitätseinbussen in den Spitzenzeiten offensichtlich, und das Netz wird störanfällig. Ein ähnlicher Mechanismus wirkt im Wohnungsmarkt. Sowohl die Nachfrage- als auch die Angebotsseite sind kurzfristig bezüglich Preisen und Mieten unflexibel. Treffen zusätzliche Nachfrager auf ein starres Angebot, so reagieren die Mieten vorerst überproportional stark das führt zu emotionalen Debatten.
Gezielte Vorwärtsstrategie
Welches sind die Optionen, mit dieser Situation umzugehen? Naheliegend wäre es, mit dem Status quo fortzufahren. Daran könnte die Hoffnung geknüpft werden, dass die Verknappung den Zustrom von Arbeitskräften drosselt. Auf dem Wohnungsmarkt sind Rationierungen aber längst Tatsache, die Märkte an zentralen Lagen sind ausgetrocknet. Eine zweite Handlungsoption besteht darin, den Zuzug von Ausländern massiv zu senken oder gar zu unterbinden. Immerhin entfallen rund 80 Prozent des Bevölkerungszuwachses seit 2002 auf die Zuwanderung. Diese Option läuft de facto auf eine Kündigung der Personenfreizügigkeit hinaus. Kontingentierung und Mengensteuerung der Zuwanderung haben jedoch in der Vergangenheit erwiesenermassen versagt. Die beste Alternative ist eine gezielte Vorwärtsstrategie. Die Zeichen der Zeit sollten erkannt und das eng gewordene Infrastrukturkorsett auf die 9-Millionen-Schweiz ausgerichtet werden. Die Voraussetzungen für mehr Investitionen im Inland stehen so günstig wie lange nicht mehr. Realzinsen nahe bei null signalisieren, dass Kapital im Überfluss vorhanden ist. Die massiven Kapitalexporte aus der Schweiz sind zudem mit steigenden Risiken verbunden. Die Kosten des Ausbaus können durch eine konsequente Benutzerfinanzierung (z. B. Mobility-Pricing im Verkehr) gedeckt werden. Das Diskriminierungsverbot in den bilateralen Verträgen lässt zwar kaum Spielraum, die Zuwanderer als «Verursacher» stärker zur Kasse zu bitten. Steuerprivilegien und andere Subventionen zur Standortförderung sind aber auf jeden Fall zu hinterfragen. Wir plädieren nicht naiv für noch mehr quantitatives Wachstum, sondern dafür, dass die Schweiz als Wirtschaftsstandort und als Lebensraum attraktiv bleibt. Der Ausbau der Infrastruktur ist darum nicht gleichzusetzen mit einer weiteren «Zubetonierung» des Mittellandes. Die absehbare Verschärfung der Raumplanung muss respektiert werden. Konkret bedeutet dies, dass nicht an der Peripherie der Städte weitergewurstelt wird, sondern die Zentren selbst zu verdichten sind.
Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 6.Juli 2012.