Inmitten von Appenzell, dem Hauptort des Kantons Appenzell Innerrhoden befindet sich ein geräumiger asphaltierter Platz. Stets am letzten April-Sonntag jedes Jahres versammeln sich an diesem Ort die stimmberechtigten Männer und Frauen, um über die Wahl- und Sachgeschäfte des Kantons unter freiem Himmel und im offenen Handmehr zu befinden. Es wird jeweils eine Holzbühne aufgestellt, auf welcher die Regierung Auge in Auge mit dem Volk die Landsgemeinde erlebt. Diese Institution ist gleichsam das Symbol direkter Demokratie. Die Bundesverfassung der Eidgenossenschaft lässt diese urtümliche Form demokratischen Verfahrens ebenso zu wie die in einigen Kantonen eingeführte elektronische Stimmabgabe
Die Kantone sind die treibende Kraft
Der Kanton Appenzell Innerrhoden besitzt – wie alle anderen 25 Stände des Landes – den bundesstaatlichen Finanzföderalismus. Politischer Wille und Ressourcen sind demokratisch in einer Hand. Nicht nur das: der Kanton mit seinen bloss 16’000 Häuptern ist auch in das Netz der eidgenössischen Finanzverfassung eingebunden. Wenn der Bund Änderungen an der Finanzgesetzgebung vornehmen will, muss er seine Absichten den Kantonen buchstabengenau unterbreiten. Sollte sich «Bern» erdreisten, Vorbehalte nicht ernst zu nehmen, dann treten die kantonalen Finanzmagistraten in der Volksabstimmung gnadenlos gegen eidgenössische Vorhaben an. Im Jahr 2004 – ich war kaum 5 Monate im Amt – haben sie eine Steuerreform grandios bachab geschickt. Man kann also sagen, die Schweiz sei in einem Grad von deutlich über 50% föderal.
Der Finanzföderalismus ist dynamisch
Das alles hört sich recht filigran an – ist es auch. Der schweizerische Fiskalföderalismus ist das Ergebnis der modernen Eidgenossenschaft, die mit der Verfassung von 1848 entstanden ist. Grob gesprochen gingen die Kantone davon aus, ihre umfassenden eigenen Kompetenzen nach Massgabe von Vernunft und Effizienz an den Bund abzutreten. Die Schweiz ist von unten nach oben entstanden.
Nach dem Prinzip der Subsidiarität werden staatliche Aufgaben nur dann einer übergeordneten Ebene übertragen, wenn diese die Aufgaben nachweislich besser erfüllt. Das hat wichtige Vorteile.
– Der Wettbewerb im Leistungs-, im Standort- und im Steuerbereich zwischen den Kantonen bewirkt Mässigung. Er sorgt vor allem auch für angemessene Steuerbelastungen. Die Kantone werden nämlich durch den Steuerwettbewerb gezwungen, haushälterisch mit ihren Mitteln umzugehen. Andernfalls verlieren sie Steuersubstrat.
– Die Kantone dienen aber auch als «Labor» im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung des Steuerwesens. Was sich im Kanton bewährt oder nicht bewährt, kann auf den Bund oder auf andere Kantone übertragen oder eben auch verhindert werden.
Der neue Finanzausgleich ist ein verbindendes Element
Ohne bundesstaatlichen Ausgleich von Interessen kommt aber auch der klügste Föderalismus nicht aus. Ein solcher Ausgleich verringert Spannungen zwischen Volksgruppen. Die Schweiz kennt vier Landessprachen und hat Dutzende von Religionen. Der Kanton Genf mit seiner kosmopolitanen Stadt, das liebliche Gestade am Zugersee und die voralpinen Landwirte haben von der Natur und von ihrer mentalen Neigung her ganz unterschiedliche Daseinsvorstellungen. Die Frage ist nicht, ob, sondern nur, wie und wo ausgeglichen werden soll. Unsere Antwort heisst NFA, nämlich: Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung. Wir haben zuerst die Aufgaben entflochten und sodann die finanziellen Ressourcen und Lasten verteilt. Nach rund 15 Jahren intensiver Arbeit wurde auf 2008 diese umfassende Reform des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung in Kraft gesetzt.
Klar ging das Ganze nicht ohne Getöse ab. Jeder Kanton, der abliefert, jammert, alle Kantone, die erhalten, möchten mehr. Kritiker sagen, der Finanzausgleich sei willkürlich. Das kann man so sehen, doch: In vielen Bereichen müssen immer wieder Limiten, Grenzen, Stufen, Sätze gesetzt werden, die alle letztlich auf subjektiven Annahmen beruhen. Warum endet die Grundstückgewinnsteuerpflicht nach 15, 20 oder 25 Besitzjahren? Warum weist die Progressionsskala bei der Einkommenssteuer diese oder jene Stufensprünge auf? Wie definiert man den Mehrwertsteuersatz? Bei der Steuergesetzgebung gilt die alte Weisheit: wenn alle gleich unzufrieden sind, ist das Gesetz gut.
Warum ein EU-Beitritt unwahrscheinlich ist
Die Schweiz tut sich schwer mit dem Gedanken, in der EU integriert zu sein. Dazu gibt es mehrere Gründe – historische, volkswirtschaftliche und völkerrechtliche. Aber mit das stärkste Argument, hohe Selbständigkeit und grosse Unabhängigkeit zu bewahren, liegt in diesem über Jahrzehnte eingespielten, reifen Zusammenwirken zwischen Demokratie und Finanzföderalismus. Ein Geschäft lässt sich bilateral mit jedem vertragswilligen Partner regeln; seine gesellschaftlichen Überzeugungen kann man nicht zu Markte tragen.