Das Jahr ist  noch jung, dennoch hat «Dichtestress» bereits gute Chancen, zum (Un-)Wort des Jahres zu avancieren. Gemeinhin als Platzhalter für überfüllte Züge, Stau auf der Autobahn oder einen angespannten Wohnungsmarkt verwendet, drückt das Wort das Unbehagen eines Teils der Schweizer Bevölkerung gegenüber der demografischen Entwicklung der letzten zehn Jahre aus.

Die Wortkonstruktion ist zweifellos Zeugin ihrer Zeit, wie etwa «LOL» oder «Bio». Die Vorstellung, dass es einen inversen Zusammenhang zwischen Dichte und Wohlstand gibt, ist jedoch uralt. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts warnte der britische Ökonom Thomas Malthus vor einer dem Wachstum eigenen Tendenz, sich selbst zu zerstören. Malthus wusste, dass der technologische Fortschritt durchaus Wohlstand bringen kann – die industrielle Revolution war damals in vollem Gang – , dennoch prognostizierte er, dass dieses Wachstum mit einer grösseren Bevölkerungsdichte einhergehen würde, die die anfänglichen Wohlstandsgewinne durch Unterernährung, Krankheiten oder gar Krieg zunichtemachen würde. Dichte war für Malthus Bedrohung, nicht Chance. Die Ressourcen seien begrenzt, meinte er, nicht aber die Bedürfnisse einer stets wachsenden Bevölkerung – das müsse schlecht enden.

Malthus übte auch einen grossen Einfluss auf Charles Darwin und auf die moderne Biologie aus. Es überrascht nicht, dass in den 1960er-Jahren der Begriff «Dichtestress» zuerst in einem biologischen Kontext auftauchte, als Beschreibung eines Zustandes von schnell wachsenden Tierpopulationen, in denen sich die Tiere ständig in die Quere kommen. Von dort schwappte er auf die Politik über. Heute sehen die meisten Dichte-Gegner zwar nicht das Leben selbst in Gefahr, sondern die Lebensqualität. Die Storyline «Dichte bringt Unheil» bleibt aber grundsätzlich die gleiche.

Wie einflussreich Malthus‘ Ideen auch immer waren: Seine Prognosen haben sich, gelinde gesagt, nicht bewahrheitet. Nicht nur wuchs die Bevölkerung der Städte in England und anderswo weiter, ohne sich zu zerfleischen. Auch die Einkommen und die Lebensqualität nahmen – abgesehen von gelegentlichen Rezessionen – kontinuierlich zu. Heute findet in den reichsten Volkswirtschaften der überwiegende Teil der Wertschöpfung in urbanen Gebieten statt, in den Zentren leben die Bestverdiener.

Wer die moderne Welt analysiert, kann kaum Evidenz dafür finden, dass die Bevölkerungsdichte einen negativen Nettoeffekt auf den Wohlstand ausübt. Im Gegenteil: mit Ausnahme einiger weniger spärlich bevölkerter, aber ressourcenstarker Länder, sind die reichen Länder der Erde alle stark urbanisiert.

Auch in der Schweiz, wo mittlerweile gut 70% der Einwohner in Städten lebt, überwiegen die Nutzen der Nähe. Wäre die Dichte tatsächlich so «stressig», liesse sich nicht erklären, warum ausgerechnet in den grössten Agglomerationen die höchsten Immobilienpreise bezahlt werden und warum in den letzten zehn Jahren die Zentren am meisten Zulauf erlebt haben. Offensichtlich gefällt es den Schweizern immer mehr, urban zu wohnen. Wie anderswo sind auch in der Schweiz die relativ ärmeren Regionen gerade jene, die spärlich bevölkert sind.

Malthus` Thesen haben den Markttest nicht bestanden. Die städtische Dichte macht eine Mehrheit von uns reicher und produktiver. Und sofern man dies an unseren Wohnortentscheidungen ablesen kann – das gefällt.